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Rezension: Um uns herum

Ein lesenswertes Experiment: Zwölf Bände über „Die Deutschen und ihre Nachbarn“.

Suche den Nachbarn, bevor du das Haus baust“, lautet ein libanesisches Sprichwort. Nationen haben diese Wahl nicht, sie müssen sich mit den Nachbarn arrangieren, die sie haben. Deutschland hat neun. Kennen wir sie? „Ein besseres Verständnis unserer Nachbarn hilft uns auch, uns selbst besser einzuschätzen, indem wir uns durch die Augen unserer Nachbarn betrachten und uns vergegenwärtigen, welche historischen Erfahrungen sie mit uns gemacht haben“, schreiben Richard von Weizsäcker und Helmut Schmidt im Geleitwort der von ihnen herausgegebenen Reihe „Die Deutschen und ihre Nachbarn“. Ausgewiesene Experten, Journalisten und Wissenschaftler haben die Herausgeber für die verdienstvolle zwölfbändige Reihe gewonnen, die neben unseren unmittelbaren Nachbarn auch noch Großbritannien, Italien, Russland und Spanien gewidmet ist; Luxemburg und Belgien teilen sich einen Band.

„Kein Nachbarland ist den Deutschen so nah und so fern wie Tschechien“, beginnt der Literaturwissenschaftler und Herausgeber der 33-bändigen Tschechischen Bibliothek Hans Dieter Zimmermann seinen jüngst erschienenen Band. Tschechien teilt nicht nur die längste Grenze mit uns, sondern kann auf eine mehr als 800-jährige gemeinsame Geschichte im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation verweisen. Im Gedächtnis der Deutschen, im politischen Disput tauchen aber eher die Sudetendeutschen auf und die Diskussionen über die Vertreibungen. Was davor war, verschwindet im Nebel der Geschichte.

Zimmermann spricht gleich in seinem einleitenden Kapitel den Sudetendeutschen mangels demokratischer Legitimation jedes Recht ab, im Namen der Deutschen in Tschechien zu sprechen. Er zeichnet die Geschichte des kleinen slawischen Landes nach, das historisch gesehen mehr mit Deutschen und Österreichern gemein hatte als mit Polen und Russen. Das Deutsche war die dominierende Sprache in Böhmen und Mähren, aber im 19. Jahrhundert entdeckten die Tschechen unter dem Einfluss Herders ihre eigene Sprache, die der Prager Abbé Dobrovský in einer Grammatik zusammenfasste und damit der Herausbildung der tschechischen Kultur Auftrieb verlieh. Deutsch war von den Habsburgern als Amtssprache eingesetzt worden und wer Karriere machen wollte, musste Deutsch lernen. Zimmermann stellt mit Josef Jungmann und Bernard Bolzano zwei Persönlichkeiten vor, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts dazu beigetragen haben, dass die Tschechen sich ihrer eigenen Sprache bewusst wurden. Idealerweise hätte das zu einer Zweisprachigkeit im ehemaligen Königreich Böhmen geführt, eine Chance, die Wien aber verstreichen ließ. Frantisek Palacký trat in seiner fünfbändigen „Geschichte von Böhmen und Mähren“ dafür ein, beide Sprachen nebeneinander bestehen zu lassen, auf dass aus dem Wettstreit der beiden Kulturen etwas Gemeinsames entstehe.

Hans Dieter Zimmermann rafft gekonnt die komplizierte Geschichte Böhmens und Mährens im Mittelalter, stellt heraus, dass nach dem Untergang des Großmährischen Reiches 895 sich die böhmischen Fürsten dem Ostfränkischen Reich und der lateinische Kirche unterstellten, was eine entscheidende Weichenstellung für die Zukunft war. Die Böhmen entschieden sich im Gegensatz zu ihren slawischen Brüdern für den westlichen Kulturkreis. Zimmermann zeichnet ein höchst interessantes Bild von unserem Nachbarn, in dem dieser sich oft als Vorreiter in Europa erweist, es ihm aber an Macht mangelte, seine Vorbildrolle durchzusetzen. Und dabei spielen die Deutschböhmen, wie Zimmermann sie nennt, eine unrühmliche Rolle, da sie nicht zur Verteidigung ihrer Republik gestanden, sondern die nationalistische Karte gespielt haben – mit den bekannten Folgen. Wer mehr über unsere Nachbarn wissen möchte, sollte sich auf das Abenteuer dieser Reihe einlassen.

Das ist vielleicht gerade im Mittelalter und der frühen Neuzeit manchmal etwas mühsam, da europäische Geschichte ein komplexes und kompliziertes Gebilde ist, aber liest man anschließend Brigitte Hamanns erfrischenden und erhellenden Band über Österreich, wird man genügend Anknüpfungspunkte finden und mit Staunen feststellen, wie wenig man auch in diesem Falle eines sogar deutschsprachigen Nachbarn voneinander weiß. So etwa, dass sich 1245 Gertrud, die Nichte des Babenbergers Friedrich II., weigerte, den in Kirchenbann stehenden Staufer Friedrich II. zu heiraten. Das verhinderte den Aufstieg Österreichs zum Königreich und führte dazu, dass es bis 1804 im Rang hinter seinen Nachbarn zurücklag. „Ein übergeordnetes frühes Königtum hätte sich positiv auf das österreichische Selbstbewusstsein ausgewirkt“, schreibt Brigitte Hamann.

Michael Erbe eröffnet mit seinem Band über Belgien und Luxemburg vermutlich Neuland, denn mehr als ein paar Klischees dürfte im allgemeinen Bewusstsein über beide Länder nicht bekannt sein. So füllt diese Reihe auch im Westen Europas weiße Flecken aus. Nicht wenige Autoren müssen gestöhnt haben angesichts der knapp 200 Seiten, die jedem Autor nur zur Verfügung standen. Das zwingt aber zur Straffung, zur Auswahl, zur Pointierung und so lernt man bei Thomas Kielinger über Großbritannien doch viel über Mentalität und Eigenart der britischen Inseln bis hin zur angestrebten Eigenständigkeit Schottlands und den Folgen der Finanzkrise.

So mag sich jeder sein Lieblingsland auswählen und seine Kenntnisse vertiefen, etwa bei Geert Mak über die Niederlande, aber der Reiz der Reihe liegt ja gerade darin, Neues zu entdecken und Unbekanntes Terrain zu erschließen – wie etwa im Fall von Tschechien.

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