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Roman: Angst war gestern

Ein Kriminalroman der Seele: Mit dem finnischen Nachtstück „Das Schweigen“ legt Jan Costin Wagner auf den ersten Blick ein eindeutiges Bekenntnis zum Genre ab und wird zum Serientäter.

Jan Costin Wagner hat den Kriminalroman bisher eher spielerisch umkreist. Sein Debüt „Nachtfahrt“ (2002) erzählte von einem Schriftsteller, der wie eine Figur Dostojewskis aus nihilistischer Weltverachtung heraus zwei Morde begeht. In „Eismond“ (2003) stand nicht die Jagd nach einem Mörder im Mittelpunkt, sondern der Schmerz des jungen finnischen Polizisten Kimmo Joentaa über den Tod seiner gerade erst verstorbenen Frau. Und in „Schattentag“ (2005) trat das am Anfang angedeutete Verbrechen schon bald hinter der Geschichte einer scheiternden Ehe in einer deutschen Vorortsiedlung zurück. Mit seinem neuen Roman legt Jan Costin Wagner nun auf den ersten Blick ein eindeutiges Bekenntnis zum Genre ab und wird zum Serientäter. „Das Schweigen“ ist ganz offensichtlich die Fortsetzung von „Eismond“: Kommissar Kimmo Joentaa macht sich im südfinnischen Turku an seinen zweiten Fall.

Ein Mädchen ist verschwunden. Die vierzehnjährige Sinikka Vehkasalo ist nach dem Volleyballtraining nicht nach Hause gekommen. Am nächsten Tag wird ihr Fahrrad gefunden, genau an der Stelle, an der über dreißig Jahre zuvor ein unbekannter Täter ein anderes Mädchen vergewaltigt und ermordet hatte. „Irgendwie denkt man, in Finnland passiert so etwas nicht.“

Und schon gar nicht ein zweites Mal. Ein Kreuz erinnert an das Verbrechen von damals, doch während Kimmo Joentaa davon ausgeht, dass es sich um einen Nachahmungstäter handelt, glaubt sein älterer Kollege Ketola, dass der Mörder von einst ein weiteres Mal zugeschlagen hat. Ketola, der gerade erst in den Ruhestand gegangen ist, drängt darauf, in die Ermittlungen eingebunden zu werden, und während noch Taucher und Hundestaffeln nach Sinikkas Leiche suchen, beginnt der pensionierte Kommissar dem mutmaßlichen Täter von damals und heute eine gefährliche Falle zu stellen.

Doch geht es in diesem Kriminalroman weniger um die raffiniert konstruierte Handlung und ihre ziemlich überraschende Schlusswendung. Der 1972 geborene Schriftsteller Jan Costin Wagner zeichnet sich vor allem durch ein zärtliches Gespür für die finsteren Seelenzustände seiner Figuren aus. So gelangt Kommissar Joentaa im Laufe der Ermittlungen zu der Erkenntnis, „dass er selbst nie mehr vor irgendetwas Angst haben musste: weil er, im Gegensatz zu den Eltern des verschwundenen Mädchens, diese Phase bereits hinter sich hatte, weil er längst das Wichtigste verloren hatte“, seine Frau Sanna, mit deren Tod der Vorgängerroman „Eismond“ begann.

Mehr als die Ermittler interessierten Wagner aber schon immer die Täter. In „Das Schweigen“ widmet er sich von Beginn an mit geradezu beunruhigendem Einfühlungsvermögen unter anderem einem gewissen Timo Korvensuo und damit dem Mann, der an der Vergewaltigung und dem Mord vor dreißig Jahren beteiligt war. Wagner zeichnet ein verstörendens Psychogramm: Korvensuo ist mittlerweile Familienvater geworden, und es gehört zu den beklemmendsten Augenblicken im Roman, wenn der Mann, der auf seinem Bürocomputer ein umfangreiches Verzeichnis für Kinderpornografie angelegt hat, am Feierabend seinen kleinen Sohn überglücklich in die Arme schließt, bis der fast keine Luft mehr bekommt und „halb lachend, halb verängstigt“ aufschreit: „Tut doch weh, Papa!“

Diese Momente, in denen tief empfundene Liebe und rohe Gewalt in der märchenhaften finnischen Landschaft zur Mittsommernacht bedrohlich miteinander verschmelzen, bilden den dunklen, romantischen Kern von Wagners Werk. Zuletzt hat man darum auch angesichts von „Das Schweigen“ das Gefühl, dass die Elemente des Kriminalromans – ein Verbrechen, Polizisten, eine Ermittlung – nur ein zufällig gewählter Rahmen sind.

Die Frage ist wohl weniger, ob Jan Costin Wagner weiterhin dem Gesetz der Serie folgt und demnächst einen dritten Kimmo-Joentaa-Roman schreibt. Sondern welche Abgründe und Nachtstücke er noch für den Leser bereithält.

Jan Costin Wagner: Das Schweigen. Roman. Eichborn Berlin, Berlin 2007.

283 Seiten, 19,95 €

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