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Roman: Schmetterlinge im Mark

Mircea Cartarescu zählt zu den bekanntesteten rumänischen Gegenwartsautoren. Sein neuer gewaltiger Roman „Die Wissenden“ begeistert.

„Vielleicht ist der Kern des Kerns dieses Buches nichts anderes als ein apokalyptischer, blendender, gelber Schrei …“: Wie das Auge des Orkans taucht diese Feststellung aus den Natur- und Geistesgewalten auf, die Mircea Cartarescu in Prosa verwandelt hat. Sein 500 Seiten starker Roman „Die Wissenden“ ist in jeder Hinsicht ein elementares Ereignis – und stellt doch nur den ersten Band, vielmehr den linken Flügel eines dreimal so umfangreichen Triptychons dar. „Orbitor“, zu Deutsch „Der Blender“, erschien 1996 in Rumänien. Nach Ceausescus Sturz im Dezember 1989 verschrieb sich der Lyriker Cartarescu ganz der Prosa. Außerdem wandte sich der 1956 geborene Sohn atheistischer Eltern der Religion zu. Die brennende Sehnsucht nach der Unio mystica durchzieht dieses überbordende Bewusstseinspanorama eines gewissen Mircea, in dem unschwer der Autor zu erkennen ist.

Am Anfang steht das Einswerden des Jungen mit seiner Stadt. Allabendlich beobachtet Mircea vom Fenster seines Zimmers aus, wie die Dämmerung heraufzieht: „Die elektrischblauen und phosphoreszierend grünen Lichtstreifen der Straßenbahnen, welche fünf Etagen tiefer durch die Straße rumpelten, drehten sich nun auf einmal an den Wänden. Und da explodierte dann das fantastische Bukarest hinter dem blauen Mondglas: ein nächtliches Triptychon von grenzenlosem, unerschöpflichem gläsernen Glanz.“ Diese puerilen Fantasiereisen erinnern in ihrer bis zur Monstrosität überschießenden Einbildungskraft an jene Gullivers. Stets kreisen sie vage um einen geschlechtlichen Kern. Ihr schlichter Ausgangspunkt: ein hässlicher achtstöckiger Plattenbau in der Stefan-cel-Mare-Chaussee.

Mircea erlebt, wie das elegante Paris des Ostens der dreißiger Jahre von Abrissbirnen verschandelt wird. Er aber bewahrt die Erinnerung an den Charme der alten Stadt, befeuert durch die Erzählungen seiner Mutter Maria. Sie kam während des Zweiten Weltkriegs aus dem Dorf Tîntava nach Bukarest. Mit ihrer Schwester Vasilica ging sie in der Schneiderwerkstatt „Verona“ in die Lehre. Durch eine Varietékünstlerin werden die Bauerntöchter in die erotischen Geheimnisse der Großstadt eingeweiht. Dort erleben sie auch die amerikanischen Bombenangriffe. Über schwarze Jazzmusiker kommen sie mit dem Voodoo-Kult in Berührung, ein thematischer Funke, der sich später bei der Schilderung der Sekte der „Wissenden“ entzündet.

Eine lineare Handlung des dreiteiligen Buches ist kaum auszumachen – umso mehr ist die herkulische Leistung des Übersetzers Gerhardt Csejka zu rühmen. Souverän bewältigt er den Strom von Farben, von hybriden Fremdwörtern aus Medizin und Technik und vor allem das Gewimmel der Insekten im Text. Das Beseelte, Animistische lauert überall, bildet einen geheimen Urgrund. Als Maria versucht, ihre Singer-Maschine zu reparieren, erleidet sie einen Schock: „Denn im Metallfenster der Nähmaschine sah sie Eingeweide zucken, eine Art Nieren, eine Art endokrine Drüsen, Fleisch und Knorpel, Blutgefäße und Lymphkanäle, vom Blut betaute, langsam sich erweiternde und zusammenziehende Ganglionen.“

Mircea Cartarescu zählt zu den bekanntesten rumänischen Gegenwartsautoren. Er steht weniger in der Tradition des Surrealismus, des „Rumänischen Traums“, wie eine entsprechende Anthologie heißt, sondern in jener religionsphilosophischen bis mystischen von Emile Cioran und Mircea Eliade. Wie den Indien-Kenner Eliade faszinieren Cartarescu der Schamanismus und das bildhaft-symbolische Denken. Mit dem Exilphilosophen Cioran verbindet ihn eine negative Strahlkraft, die Überzeugung von der heillosen Daseinsform des modernen, in Häresie befangenen Menschen. Von diesem Umstand zehrt auch die Sekte der „Wissenden“ rund um einen schwarzen Albino, die in New Orleans ihr Unwesen treibt.

Der Roman mündet in ein perverses Opferritual. Wieder geht es um das Einswerden, um Neuschöpfung und Apotheose: „Deshalb wird der Schöpfer Mann und Licht, aber auch Frau sein, schwarz und untertan.“ Und es erklingt das Teufelswort „Tikitan!“, mit dem einst bösartige Mädchen den kleinen Mircea während eines Krankenhausaufenthalts quälten. Flankiert von einem Heer von Ko-Insekten prägt der Schmetterling als Symbol der Verwandlung Cartarescus gewaltiges Epos. Band zwei, das nächste Verpuppungsstadium, darf mit Spannung erwartet werden.

Mircea Cartarescu: Die Wissenden. Roman. Aus dem Rumänischen von Gerhardt Csejka. Zsolnay Verlag, Wien 2007. 526 S., 24,90 €. Cartarescu liest heute, 14.11., ab 20 Uhr im Literaturhaus Berlin, Fasanenstr.

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