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Roman: Sex und Subtext

Henk van Woerden erzählt ein türkisches Drama. Es geht um Musik, genauer gesagt um das Lautenspiel der Hauptfigur Joakim und die "Gefühlslage des Augenblicks".

Fast ein ganzes Jahrhundert türkische Geschichte. Ein Familiendrama, das drei Generationen umfasst, einen dreifachen Inzest und in Saloniki, Istanbul, Frankfurt, Amsterdam und einem türkischen Touristenort spielt. Männer kommen vor, die Frauen lieben und Männer begehren (oder umgekehrt); Frauen, die als Prostituierte arbeiten, obwohl sie lieber Bibliothekarinnen geworden wären. Außerdem geht es in „Ultramarin“, dem nachgelassenen Roman des Niederländers Henk van Woerden, der 1947 in Leiden geboren wurde und 2005 in Michigan an Herzversagen starb, noch um drei Farben Blau, also ums Meer und die Unendlichkeit. Vor allem aber geht es um Musik, genauer gesagt um das Lautenspiel der Hauptfigur Joakim und die „Gefühlslage des Augenblicks“.

Es geht um viel, zu viel für einen 300-Seiten-Roman, und man möchte dieses Buch regelmäßig verärgert in die Ecke pfeffern: wegen der sentimentalen Liebe zum „Licht des Südens“ (van Woerden verbrachte seine Jugend in Südafrika und erkor Jahrzehnte später Griechenland zu seiner Heimat); wegen der ungelenk anmutenden Weise, in der gesellschaftliche Entwicklungen mit dem Schicksal der Figuren verzahnt werden (van Woerden war ursprünglich Journalist); und wegen des zusammengezimmerten Plots nach Schema Ödipus.

Es beginnt mit der Vertreibung eines zum Islam übergetretenen griechischen Juden, der im Zuge des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausches Saloniki in den zwanziger Jahren verlassen muss und in der Türkei wegen seiner jüdischen Wurzeln diskriminiert wird. Dieser Mann hat zwei Kinder von zwei Frauen, Joakim und die jüngere Aysel, Halbgeschwister, die sich ineinander verlieben (Inzest Nr. 1). Als der Vater von der Beziehung erfährt, packt er Hals über Kopf seine Tochter und zieht mit ihr nach Frankfurt. Aber Aysel ist schon schwanger und bringt das Mädchen Özlem zur Welt, das den Erzählstab von Joakim übernimmt. Özlem wächst in Westdeutschland auf, das in den siebziger Jahren seine Gastarbeiterkinder noch als „Knoblauchstinker“ beschimpft. Schlimmer ist: Sie weiß nicht, wer ihr Vater ist. Trost spendet der Stiefvater, zu dem sie eine intensive, erotisch angehauchte Beziehung hat (Inzest Nr. 2, raunend angedeutet). Mutter Aysel rast vor Eifersucht (und stirbt holterdiepolter), während Özlem die Schule abbricht und in Amsterdam als Hure arbeitet. Damit sich der Kreis wieder schließt, müssen jetzt nur noch Özlem und ihr ungekannter Vater Joakim zueinandergeführt werden.

Joakim, der Aysel nicht vergessen kann, ist inzwischen der berühmteste Lautenspieler der Türkei geworden. Und siehe da, plötzlich begegnet er an der türkischen Riviera einer Frau, die Aysel wie aus dem Gesicht geschnitten ist! Der ödipale Showdown (Inzest Nr. 3) findet dann in einem Kleinstadtbordell statt, wo Özlem, die sich inzwischen Rinke nennt, ausdauernd am schlaffen Glied des recht heruntergekommenen Joakim zuzelt, ohne zu wissen, wer er ist. Viel Sex also, viel Subtextgebrodel über Fremde und Heimatlosigkeit, viel Nachdenken über Verdorbenheit und Reinheit und das „Nichts des Meeres“.

Doch man liest weiter, und zwar wegen der Passagen, in denen van Woerden Joakims Lautenspiel beschreibt. Sobald es um die Wirkung von Musik geht, um die Verwandlung einer Menschenmenge durch drei, vier leise angeschlagene Töne, wirft van Woerden allen Bombast ab, umreißt mit wenigen Worten Stimmungen und lässt Klänge plastisch werden. Genau in der Mitte des Buches schlägt Joakim „scheinbar achtlos die Saiten an“, um das Publikum erst in Verzückung zu versetzen und dann in tiefen Zweifel zu stürzen. „Schließlich endet er auf einem Ton, der alles angenehm in der Schwebe lässt, ohne wirklich Fragezeichen zu setzen.“ Es sind nur acht Seiten, aber währenddessen gleicht sich der Atem beim Lesen dem Rhythmus der Sätze an.

Henk van Woerden: Ultramarin. Roman. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Claasen Verlag, Berlin 2008.

333 Seiten, 19,90 €.

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