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© Jeremy Nicholl/laif

Russland: Moskaus Mysterien: Korruption ist die halbe Ordnung

Der Chef-Ideologe des Kreml soll einen Schlüsselroman über die russische Misere geschrieben haben - unter einem Pseudonym.

Schriftstellerei, das war in Russland nie ein leichter Job. Schon den großen Realisten des 19. Jahrhunderts verlangte das Lesepublikum sehr viel mehr ab als ästhetisches Vergnügen. Ein echter russischer Roman hatte eine nationale Idee zu formulieren, eine politische Vision zu entwerfen, er hatte die großen Fragen zu lösen, die bis heute an der russischen Seele nagen: Sind wir Europäer? Asiaten? Weder noch? Sind wir frei, sind wir Sklaven, geboren fürs Joch? Monarchisten? Sozialisten? Kinder Gottes? Atheisten?

Der Job wurde nicht leichter, als sich die Sowjetherrscher darauf verlegten, den Dichtern ihre eigenen politischen Visionen in die Feder zu diktieren. Die heutigen Herren im Kreml haben von solchen Methoden weitgehend Abstand genommen – eine Haltung, hinter der man bisher eher literarisches Desinteresse als Liberalität vermutete. Seit ein paar Monaten aber nährt in Moskau ein umrätselter Roman den Verdacht, dass in der Ära der „gelenkten Demokratie“ (eine Phrase, von deren Urheber noch die Rede sein wird) die politische Sprengkraft der Literatur wiederentdeckt wird.

Erschienen ist das mysteriöse Werk als Sonderausgabe des Intelligenzija-Journals „Russkij Pioner“. Der 111 Seiten umfassende Band trägt den Titel „Okolonolja“ (etwa: Gegen null), als Autor wird ein gewisser Natan Dubowizkij ausgewiesen – ein Pseudonym, wie das Vorwort verrät. Jenseits der überschaubaren Leserschaft der Zeitschrift wäre die düstere Erzählung über die Seelenqualen eines moralisch korrumpierten Intellektuellen vermutlich kaum wahrgenommen worden – wenn nicht kurz nach ihrem Erscheinen der Schriftsteller Viktor Jerofejew in einem Zeitungsinterview kolportiert hätte, der wahre Autor sei Wladislaw Surkow, der stellvertretende Leiter der russischen Präsidialadministration.

Die Enthüllung entfachte einen feuilletonistischen Orkan. Surkow, der russischen Liberalen als Intimfeind gilt, wird als wenig sichtbarer, dafür umso einflussreicherer dritter Mann hinter Putin und Medwedew gehandelt. Als eine Art Chef-Ideologe des Kreml steht er für jene Herrschaftsmechanismen, mit denen das Putin-Regime in den vergangenen Jahren die Opposition an den Rand gedrängt hat. Das Schlagwort von der „gelenkten Demokratie“ wird ihm ebenso zugeschrieben wie die Gründung der antiliberalen Kreml-Jugendorganisation „Naschi“.

Ausgerechnet dieser Mann sollte einen Roman geschrieben haben, der sich als Zustandsbeschreibung der russischen Gesellschaft lesen lässt? Rasch wurden weitere Indizien angeführt: Das Pseudonym Dubowizkij entspricht dem Mädchennamen von Surkows Ehefrau; literarische Ambitionen hatte der Politiker bereits als Songtexter der Rockband „Agatha Christie“ sowie als Essayist des „Russkij Pioner“ unter Beweis gestellt. Als sich die Gerüchte verdichteten, ging Surkow in die Offensive. Für die Folgeausgabe des „Russkij Pioner“ schrieb er, die Frage nach seiner Autorschaft süffisant umschiffend, eine Rezension des Romans – und die betonte Ironie, mit der er den Text dabei verriss, ließ fortan kaum noch Zweifel an seiner Urheberschaft.

Glänzt also schon Surkows Auftreten als Autor mit einiger Doppelbödigkeit, so liest sich „Gegen null“ erst recht wie eine postmoderne Tour de Force durch Meta-Ebenen, Polit-Zitate und literarische Referenzen von Shakespeare bis Nabokov. In einer nicht unbeeindruckten Rezension verglich Viktor Jerofejew das Buch mit einem „Geländewagen, der durch die Sümpfe und Einöden der modernen Literaturlandschaft braust ... und sich auf das Glatteis von Internet-Jargon, schriftstellerischem Scharfsinn, lyrischer Selbstbespiegelung sowie Bewunderung für seinen geschickten Fahrer begibt“.

Inhaltlich hält sich das Buch an seinen englischsprachigen Untertitel „Gangsta Fiction“: Der Protagonist Jegor, ehemals ein brillanter Literat, schließt sich in den Wirren der 90er Jahre einer Mafia-Gruppierung an, die unter dem Decknamen „Schwarzes Buch“ den frisch privatisierten Buchhandel unterwandert. Mit skrupelloser Brutalität („Im Schwarzen Buch stehen nur fünf Wörter: Gold wird aus Blei gemacht“) arbeitet sich Jegor nach oben. Als der Leser ihm in der Jetzt-Zeit wiederbegegnet, hat er es zum schwerreichen Oberschurken gebracht, der die schmutzigen Geschäfte eines hohen russischen Politikers erledigt. Für seinen Auftraggeber presst Jegor etwa einem verarmten Schriftsteller Gedichte ab, die der Politiker im Wahlkampf als seine eigenen ausgibt. Selbstreferenzieller Einschub des Autors: „Die Intelligenzija ist verrückt nach ihm: Ein dichtender Gouverneur – Poet und Zar in einer Person!“

Im Folgenden werden in bemerkenswerter Offenheit all jene Malaisen ausgebreitet, unter denen Russlands Staatswesen gegenwärtig leidet: Korruption, Nepotismus, Willkür, Gewalt, Rassismus. Einer Journalistin, die kritisch über Jegors Auftraggeber schreibt, legt der Held höflich nahe, ihre Artikel gegen Bezahlung zu widerrufen. Als sie ablehnt, bringt Jegor raunend eine „alternative Variante“ ins Spiel: „Wahlfreiheit ist ein grundlegender Wert der Demokratie.“

Die Journalistin begreift, dass ihr Leben auf dem Spiel steht. Als sie schließlich einwilligt, entspinnt sich ein Dialog, in den der Autor das ganze zynische Selbstverständnis russischer Herrschaftsausübung zu legen scheint. Die Journalistin: „Ich hasse die Macht. All diese Gouverneure, Abgeordneten, Minister, Tschekisten, Bullen, diese gierige Menge vor dem Thron. Henker der Freiheit!“ Jegor: „Sie hassen nicht die Macht, sondern das Leben. Weil es nicht so ist, wie Sie es gerne hätten.“ – „Und Sie hätten es gerne so, wie es ist? Ungerechtigkeit, Gewalt, Apathie …“ – „Grundlegende Eigenschaften des Lebens, nicht nur einer Macht.“

Deutlicher noch wird der Autor in seiner Apologie korrumpierten Regierungshandelns, als eine Verfassungsschützerin begründet, warum sie Jegors Machenschaften toleriert: „Wir kennen so viele schmutzige Geheimnisse – wenn wir die aktivieren würden, flöge der gesamte Staatsapparat dieses und nicht nur dieses Landes in die Luft ... So traurig es klingen mag: Korruption und organisiertes Verbrechen sind gleichermaßen tragende Konstruktionen der sozialen Ordnung wie die Schule, die Polizei und die Moral. Beseitige sie, und das Chaos beginnt.“

Jegor, und mit ihm sein Erzähler, wirken unerschütterlich in ihrem zynischen Machtbewusstsein – bis sich ab der Mitte des Romans das Schicksal gegen den Protagonisten wendet. Seine Geliebte, eine zweitklassige Schauspielerin, lädt ihn zu einer Filmpremiere ein, zu der sie selbst nicht erscheint. Stattdessen findet sich der Held in einer Gesellschaft oppositioneller Bohemiens wieder, die der Autor mit Häme zeichnet. Als der Film beginnt, entpuppt er sich als Snuff-Movie mit realen Todesszenen: Jegor muss mit ansehen, wie seine Geliebte bestialisch vergewaltigt und ermordet wird. Er sinnt auf Rache, verfolgt den Regisseur des Films quer durch eine in Chaos und Gewalt versinkende islamische Teilrepublik (Tschetschenien?), wo er schließlich selbst in die Fänge des sadistischen Filmemachers gerät, der sich als literarischer Konkurrent aus Jugendtagen entpuppt.

Schwer verstümmelt kehrt der Held nach Moskau zurück – und hier nimmt die Erzählung eine Wende, die in ihrer politischen Ambivalenz wohl das Herzstück dieses bizarren Schlüsselromans bildet. Jegors Schwanken zwischen Rachsucht und Ausstiegsgedanken mündet in folgenden Hamlet-Monolog: „Wäre es doch möglich, nichts zu tun, nicht zu sein, sich tot zu stellen. Was ist cooler? Sich abfinden, geduldig lächeln, wenn dich alle in den Arsch ficken? Und glauben, dass es besser so ist, dass einer als Erster aufhören muss sich zu rächen, zu töten? Oder – die Knarre nehmen und diesen ganzen Scheiß niedermähen, wie Xerxes, der das Meer geißelt – dumm vielleicht, aber cool. Zehn Jahre, lebenslänglich, Tod, was ist der Unterschied – das ist wie Einschlafen, das ist gut. Obwohl – was träumen die Toten? Wer weiß. Am Ende Schlimmeres als diesen irdischen Krampf. Du windest dich, du kratzt dir die Rübe, und so ist es immer - je mehr du denkst, desto weniger verstehst du. Und noch weniger tust du.“

An diesem Punkt haben der Text und die ihn umgebende Verschwörungstheorie freilich eine derartige politische Aufladung erzeugt, dass der Leser gar nicht anders kann, als Jegors inneres Hadern pars pro toto für die Verfasstheit eines ganzen Landes zu setzen: Beschwört hier ein Kreml-Ideologe die Abkehr von Terror und Gewalt? „Man kann Macht erringen, ohne jemanden auszulöschen“, reflektiert Jegor. „Man muss nur aufhören. Man muss neu anfangen. Jetzt sofort.“

Am Ende wählt der Held trotzdem den Weg der Rache. Die Schlussszene aber überführt den finalen Todesschuss ins Metaphysische. Vage deutet sich eine moralische Erlösung an, doch die Handlung bleibt uneindeutig, der politische Subtext ambivalent. Drei Lesarten konkurrieren, keine gewinnt die Oberhand:

1. Surkow ist Claudius. Sein Buch ist das Selbstporträt eines zynischen Machtmenschen – und Russland ein Staat, der unaufhaltsam von Vatermord zu Vatermord taumelt.

2. Surkow ist Hamlet. Sein Buch ist das Selbstporträt eines zaudernden Machtmenschen, der mit seiner Mörderrolle hadert und für Russland einen Ausweg aus dem Teufelskreis der Gewalt sucht.

3. Surkow ist Shakespeare. Sein Buch ist das Glasperlenspiel eines unterforderten Intellektuellen – und Russland nur das Setting, das dem Drama politische Würze verleiht.

Worte, Worte, nichts als Worte?

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