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SCHREIB Waren: Neun Minuten lange Fragen

An dieser Stelle wird regelmäßig auf Lesungen der kommenden Woche hingewiesen. Dabei ist es hin und wieder auch angebracht, zu fragen – als Ritual der begrifflichen Durchlüftung sozusagen –, was eine Lesung eigentlich sei? Andreas Schäfer über Freud und Leid bei öffentlichen Lesungen.

Wo kommt sie her, wo geht sie hin? Wer trifft sich da, spricht mit welcher Stimme und stellt warum welche Frage? Dass die Lesung heute gern Event genannt werden möchte und mancherorts sogar Poetry Slam heißt, wissen wir inzwischen. Aber sonst?

Man schlage also das wunderbare Buch „Der gelernte Berliner“ von Bernd Cailloux auf, dem selbst ernannten „Veteranen des Westens“ und ewigen „Schöneberch“- Bewohner, das sieben schlaue und amüsante „neue Lektionen“ in der Kunst des In-Berlin-Überlebens enthält. Eine Lektion trägt den Titel: „... und abends in die Lesung“. In einem historischen Exkurs erfährt man darin, dass die Dichtungslesung schon in der Antike üblich war: Plutarch nannte in seiner Schrift „Auf welcher Art es sein muss, dass ein junger Mensch Dichtungen hört“ zwei Gründe für eine öffentliche Lesung. Dass anwesende Kollektiv könne so den Lesestoff der Jugend kontrollieren. Außerdem sei sofort eine Diskussion möglich. Die heutige Buchvorstellung ist dagegen etwa hundert Jahre alt. Auch Kafka „hatte“ schon Lesungen, auf die er sich „höllisch“ freute: „Am Nachmittag zitterte ich schon vor Begierde zu lesen, konnte kaum den Mund geschlossen halten.“ Die Zuhörer waren dann nicht so begeistert. Seine Stimme „klang entschuldigend“, befand einer aus dem Publikum. Aber das Publikum, meinte wiederum Ringelnatz, ist sowieso „unberechenbar ... nur der Teufel und kleine Vorstadttingeltangelartisten kennen sich darin aus.“

Das ist auch Caillouxs Erfahrung als langjähriger Lesungsbesucher, der schon in den siebziger Jahren mit Grass in der gleichen S-Bahn zur Akademie fuhr. Die einen tragen Gesichter, die ausdrücken, „ich verstehe alles“. Die anderen brüllen, noch bevor es losgeht: „Fuck you, hau ab!“ Dritte stehen nach der Lesung auf und stellen neun Minuten lange Fragen, auf die es keine Antworten gibt. „Während dieser Wortmeldung hatte ich die leise Vermutung, dass möglicherweise der eine oder andere Seelenarzt diffus Leidende oder noch geringfügig gestörte Rekonvaleszenten aus psychotherapeutischen Gründen zu Lesungen schickt, um sie so wieder an eine größere Gemeinschaft oder auch an die Härte öffentlichen Redens zu gewöhnen.“ Am Donnerstag, den 23. April liest Bernd Cailloux im legendären Buchhändlerkeller in der Carmerstraße 1 um 20 Uhr 30 aus „Der gelernte Berliner“.

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