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SCHREIB Waren: Viel Zeit, wenig Raum

Steffen Richter über die Sehnsucht nach dem "Wenderoman"

15 Jahre ist es her, dass „Fritzleben“ erschien, ein Buch, das sich „Roman einer Wende“ nannte. Der Clou war, dass es diesen Roman gar nicht gab. Stattdessen waren Rezensionen renommierter Schriftsteller zu dem nicht existierenden Buch versammelt. Schon damals also gab es gute Gründe, sich über die Feuilleton-Fiktion des „Wenderomans“ zu amüsieren.

Abgesehen vom fragwürdigen Singular ist die Mechanik der Idee befremdlich. Warum sollte ein wichtiges historisches Ereignis eigentlich große Literatur erzeugen? Wo wäre der Roman der Französischen Revolution oder der Entdeckung Amerikas? Und: Dürfen eigentlich nur Ostdeutsche am „Wenderoman“ werkeln? Ach, ist das zwiespältig! Einerseits bestücken schreibwütige, früh vergreiste Ostdeutsche Mitte 30 den Markt mit Kindheitserinnerungen – dankbar, den Herbst ‘89 erlebt zu haben, sonst wüsste mancher gar nicht, was er schreiben soll. Andererseits kann, wer ‘89 bewusst erlebt hat, kaum umhin, über diesen Bruch nachzudenken.

Von Ingo Schulze etwa könnte man sagen, dass er einen „Wenderoman“ nach dem anderen schreibt. Der letzte, „Adam und Evelyn“ (Berlin Verlag), ist angegiftet worden, weil er Positionen vorführt, die offenbar schwer akzeptabel sind. Alle wollen raus aus dem Land – nur Adam, Schulzes Protagonist, muss quasi in den Westen getragen werden. Der Mann sieht einfach nicht ein, warum er „rüber machen“ soll. Schließlich lebt er ein Leben nach seinen Vorstellungen. Natürlich entgeht ihm weder ostdeutscher Konformitätsdruck noch Überwachung. Und doch hat ihn wohl eine Form der „stabilitas loci“ erwischt. Dieser kleine, äußerst leichte Roman über den Sommer ‘89 am Balaton transportiert eine Erfahrung, die heute kaum noch zu machen ist: die einer Gesellschaft mit viel Zeit und wenig Raum. Ohnehin erzählen Schulzes Bücher meist etwas über die kleinen Vorteile der großen Nachteile der DDR. Ob man sie deswegen „Wenderomane“ nennen muss, wird Schulze am heutigen Dienstag (20 Uhr) im Brecht-Haus (Chausseestr. 125, Mitte) mit Christoph Hein debattieren.

Vielleicht ist es ein gutes Zeichen, dass man mittlerweile unverkrampfter mit dem Thema umgehen kann. Also ohne in Ostalgie-Kitsch zu verfallen oder Verharmlosung zu betreiben. Wie Schulze hat das auch Rayk Wieland mit „Ich schlage vor, dass wir uns küssen“ (Verlag Antje Kunstmann) gezeigt: Da wird ein Ostberliner lange nach dem DDR-Ende zum Widerstandskämpfer, weil die Stasi seine Liebesbriefe an die Münchner Angebetete für Kassiber hielt. Kennt man die Stasi-Paranoia, muss man befürchten, dass die Geschichte wahr ist. Am 25.6. (20 Uhr 30) kann man Wieland im Buchhändlerkeller (Carmerstraße 1, Charlottenburg) fragen, welche Schublade er für sein Buch gern hätte: Tatsachenbericht, spöttische Farce oder gar „Wenderoman“.

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