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Streitschrift: Liebe kann, muss aber nicht

Von der Illusion des Vertragens zur Reife des Ertragens: Arnold Retzer erklärt, wie Ehen dauerhaft funktionieren.

Die Liebe steckt in einer schweren Krise. Das hört man in jüngster Zeit oft, das kann man aber vor allem in zahllosen, mitunter immens erfolgreichen Sachbüchern nachlesen. Im Zeitalter unbegrenzter Möglichkeiten und unendlicher Freiheit sei die Liebe nicht mehr möglich, gar an ihr Ende gekommen, so hat es der Journalist und Philosoph Sven Hillenkamp in seinem Buch „Das Ende der Liebe“ dargelegt. Und wenn die Liebe wiederum als „unordentliches Gefühl“ genauso wortreich wie unzulänglich beschrieben wird, wie bei Richard David Precht, wenn nur Frauen von der Liebe träumen und Männer nur Sex haben wollen, wie es die australischen Liebeskundler und gelernten Kommunikationstrainer Allan und Barbara Pease postulieren, dann werden aus Büchern wie diesen zwar Bestseller, die Irrungen und Wirrungen in Sachen Liebe aber nicht weniger. Geschweige denn, dass die Krise der Liebe behoben wird.

Auch der Arzt, Psychologe und Paartherapeut Arnold Retzer weiß keine ultimative Abhilfe. Deshalb fordert er in seinem Buch „Lob der Vernunftehe“ auch lediglich mehr Realismus in der Liebe ein (wie es ihm vermutlich der Verlag verkaufsfördernd in den Untertitel geschrieben hat) und hält sich ansonsten gar nicht lange bei der Liebe auf. Er kommt schnell zur typischen Konsequenz der Liebe, der Ehe, die, wie Retzer im Hinblick auf sein Buch betont, auch eine feste Paarbeziehung ohne Trauschein oder eine homosexuelle Beziehung sein kann. Und die Ehe und die Liebe, weiß Retzer, passen nicht zusammen.

Die Liebesehe ist für ihn ein Ding der Unmöglichkeit, weil Liebe spontan ist, ein Schicksal, weil sie etwas Romantisch-Irrationales hat. Die Ehe wiederum ist eine Institution, sie basiert auf einem Vertrag. Hier stehen keine Gefühle im Vordergrund, sondern die Organisation. Also schlussfolgert Retzer:  „Die Liebesbeziehung ist überfordert, weil sie ständig dafür zu sorgen hat, dass sie sich nicht im alltäglichen Leben realisiert, und die Ehe ist überfordert, weil sie etwas zu leisten hat, was nicht im Regelwerk der Organisation Ehe vorgesehen und daher nicht zu haben ist.“ Trotzdem ist für Retzer nichts vernünftiger, als in einer Ehe auf die Liebe zu setzen. Nur müsse halt eine kunstvolle Balance hergestellt werden (Autonomieverluste einkalkulieren! Widersprüche aushalten!), nur müssten sich die Partner immer mal wieder vergewissern, was sie einst zusammengebracht hat. Denn dies könne „in vielen Fällen die Liebesgeschichte wieder reaktivieren oder zumindest den Unterschied zwischen damals und heute erkennbar machen, und es können sich daraus Konsequenzen entwickeln“.

Und schon stellt sich die Frage, die Retzer ins Zentrum seines Buches gestellt hat und die all die bewegt, die sich trotz 200 000 geschiedener Ehen pro Jahr in Deutschland immer wieder aufs Neue dauerhaft aufeinander einlassen: Wie kann eine Ehe bloß gelingen? Knarrt es zumindest zu Beginn etwas in Retzers argumentativen Gedankengebäude – ohne Liebe keine Beziehung, wer hätte das gedacht? –, so erörtert er im Folgenden sehr schön, wie Ehen vielleicht lebenslang funktionieren können: Man muss in einer Paarbeziehung vergeben können, das aber soll ein Akt subjektiv empfundener Freiheit sein und nicht mit Forderungen einhergehen. Man darf nicht auf hundertprozentige Gleichheit oder Gleichberechtigung hoffen, schon gar nicht auf Ausgleich, wenn einer der Partner eine Affäre hat. Man muss auch in der Ehe befreundet sein können. Man darf das Glück nicht erzwingen wollen. Man muss Konflikte austragen können, man darf keinen Ärger anstauen, und Lachen ist natürlich auch wichtig. Sonnenklar, das alles, von Retzer immer wieder unterstrichen mit schön merkwürdigen Formulierungen. Von der „resignativen Reife“ spricht er und meint das positiv, vom „abrufinduzierten Vergessen“, wenn schlechte Erinnerungen wieder einmal zu einer schweren Belastung der Beziehung werden. Oder davon, dass in jeder guten Ehe der Weg von der „Illusion des Vertragens zur Reife des Ertragens“ beschritten wird.

Dass Retzers Empfehlungen und Analysen auf dem einen Blatt stehen, die Wirklichkeit aber auf einem anderen, ist auch sonnenklar – sonst würden nicht so viele Ehen geschieden werden, sonst hätten Kontaktagenturen im Internet und anderswo keine Hochkonjunktur. Wie sagte doch kurz vorm Jahreswechsel die Popsängerin Sarah Connor, als sie die Scheidung von ihrem Mann Marc Terenzi bekannt gab: „Unsere Ehe ist zu Ende, nicht aber unsere tiefe Liebe und Freundschaft.“ So kommt über den Umweg der Ehe vielleicht auch die Liebe eines Tages wieder aus ihrer Krise heraus.

Arnold Retzer: Lob der Vernunftehe. Eine Streitschrift für mehr Realismus in der Liebe. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2009. 298 Seiten, 18, 95 Euro.

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