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Tagebücher: Es könnte von mir aus Rasiermesser schneien

Die „Tagebücher 1974 - 1978“ von Martin Walser sind nicht nur eine Auseinandersetzung mit Marcel Reich-Ranicki. Sie zeigen Walser auch als Aphoristiker, Lyriker und empfindsamen Reisenden.

Leben wie Schreiben birgt Überraschungen. Im Mai 1978 schrieb Martin Walser in sein Tagebuch: „Ich träume manchmal von Sachsen, obwohl ich nie in Sachsen war.“ Heute ist er Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste. Auch Dichter sind keine Propheten. Vier Tage später reimte Walser: „Keiner von uns wird dabei sein / wenn es wieder Deutschland heißt / solange wir sind / werden es zwei sein / eines das kratzt / und eines das beißt.“ Fragt sich nur, ob auch das wiedervereinte Deutschland kratzt und beißt?

Martin Walser kann das egal sein. Tagebücher werden schließlich nicht publiziert, um recht zu behalten, sondern um gelesen zu werden. Diesen Zweck haben schon die 2005 und 2007 erschienenen ersten beiden Bände von Walsers Tagebüchern glänzend gerechtfertigt: Wer den Autor nur als Romancier kannte, konnte dort einen neuen, vielseitigen Walser kennenlernen: einen scharfzüngigen Aphoristiker, einen fast noch unbekannten Lyriker (nur einmal hatte er seinem Publikum 1986 „Heilige Brocken“ hingeworfen, eine Sammlung von Aufsätzen, Prosa und Gedichten) und einen empfindsamen Reisenden mit dichten Landschafts- und Naturbildern.

Jetzt kommt, im dritten Band der Tagebücher, ein scharfer Beobachter seiner Zunft hinzu – seiner Freunde und Kollegen Max Frisch, Günter Grass, Uwe Johnson, seiner Antipoden Handke und Enzensberger und seines Verlegers Siegfried Unseld. Und natürlich ein überzeugter Hasser seines strengsten Kritikers, Marcel Reich-Ranicki. Über 200 von 500 Seiten der Tagebücher von 1974 bis 1978 füllt die Auseinandersetzung mit dessen Totalverriss von Walsers Roman „Jenseits der Liebe“. Am liebsten will er den mit einer öffentlichen Ohrfeige beantworten, weil er sich diffamiert fühlt. Er „spüre ein Recht darauf, diesen Herrn ein für alle Mal zu hassen ... Für mich ist er gestorben, wenn ich das so ausdrücken darf.“

Noch zwei Jahre später ist er nicht versöhnt, als Reich-Ranicki seine Novelle „Ein fliehendes Pferd“ als Meisterwerk feiert; und vom „Tod eines Kritikers“ ist noch gar nicht die Rede. Was erwartet uns da wohl in einem nächsten Band? Im wie vielten? Bisher sind die Tagebücher auf vier Bände angelegt, von denen die beiden ersten je ein gutes Jahrzehnt umfassen, dieser dritte sogar nur ganze vier Jahre. Das sind noch 22 Jahre bis 2010. Doch was da nach Längen klingen könnte, lässt keine Langeweile aufkommen. Selbst Walsers Hasstiraden sind noch ein blitzendes Feuerwerk, das die literarische und politische Szene der siebziger Jahre kontrastreich beleuchtet.

Um Politik geht es dabei insofern, als Walser sich damals zeitweilig der DKP genähert hatte, ohne ihr Mitglied zu werden. Von Günter Grass hatte ihm das den Bannfluch zugezogen, mit ihm und auch den Schriftstellern Peter Weiss, Franz Xaver Kroetz und Günter Herburger gebe es keine Gemeinsamkeit und keinen Dialog mehr, so Grass. Seinem Verleger Siegfried Unseld bedeutete Dolf Sternberger, kein (vermeintliches) Mitglied der DKP werde den Georg-Büchner-Preis bekommen, solange er selbst Vizepräsident der Darmstädter Akademie sei. Darauf Walser: „Büchner hätte den Büchner-Preis auch nicht bekommen.“ Martin Walser bekommt ihn 1981. In seinem Tagebuch hält er wiederholt seine Äquidistanz zu beiden deutschen Staaten fest, am 4.8.1975 mit einem Vierzeiler: „Ich bin drüben / und rufe herüber / Genossen, ich wollte / ich wäre geblieben.“ Als ihn 1977 östliche Emissäre zu einer Friedenskonferenz der Schriftsteller einladen, lehnt er ab: ohne Wolf Biermanns Teilnahme sei das bloß „präparierte Harmonie“.

Die wird man vergeblich suchen. Immer wieder bekennt Walser „ein Bedürfnis nach etwas Direktem. Es könnte von mir aus Rasiermesser schneien. Ich ginge hinaus mit bloßen Armen und sänge laut.“ Solche Bilder gelingen ihm immer wieder, als Aphorismen, in Gedichten von lakonischer Kürze, die manchmal an fernöstliche Lyrik und manchmal an die Buckower Elegien des späten Brecht erinnern: „Die Sonne scheint mir auf die Hand / ich brauche keine neuen Schuhe mehr / die Nachrichten lese ich sitzend. Mein / Verbrechen heißt Teilnahmslosigkeit.“ Zwei Dutzend davon ergäben ein Insel-Bändchen „Nußdorfer Elegien“. Wenn Siegfried Unseld doch noch lebte!

Für professionelle Leser, speziell Walser-Philologen, sind die Tagebücher aber auch Fundgruben für dessen ungeschriebene Bücher, den „Zukunftsroman“ und die beiden geplanten Folgebände zur „Gallistl’schen Krankheit“. Den Schlüssel zu solchen Details liefern, wie in den früheren Bänden der Tagebücher, Jörg Magenaus Anmerkungen, die dieses Mal endlich auch ergänzt sind um ein Register der erwähnten Zeitgenossen von Abs und Achternbusch bis Gerhard Zwerenz. Das ist auch dann von Nutzen, „wenn man bedenkt“, so Walser 1977, „daß man nicht alle Briefe Flauberts oder Nietzsches und nicht alle Tagebücher Kierkegaards lesen wird.“

Martin Walser:

Leben und Schreiben.

Tagebücher 1974 - 1978.

Rowohlt Verlag,

Reinbek 2010.

544 Seiten, 24,95 €

Hannes Schwenger

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