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Grass

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Talk mit Thierse: Geschichtsstunde bei Grass

Wie Günter Grass im Berliner Ensemble störrisch seine Thesen über die deutsche Vereinigung gegen Wolfgang Thierse verteidigte.

Günter Grass hat noch nie Angst vor Sätzen gehabt, die er schon hundertmal in irgendwelche Mikrofone gesprochen hat. Also sagt er auch an diesem Abend im Berliner Ensemble zum hunderterstenmal, von seinem Gesprächspartner Wolfgang Thierse auf die Motivation angesprochen, sein Tagebuch von 1990 ausgerechnet im zwanzigsten Jahr der Wiedervereinigung zu veröffentlichen: „Ich will den Sonntagsrednern in die Suppe spucken.“

Das soll er ruhig tun; und das muss vielleicht zu Gunsten von Grass noch übersetzt werden: Er will die Sonntagsredner wohl zum Nachdenken darüber zwingen, dass mit der Wiedervereinigung nicht alles so optimal gelaufen ist, wie sie das meinen. Im Gegenteil: Dass sie glatt an die Wand gefahren wurde. Andererseits steht Grass mit seiner Suppenspuckerei auf einem einsamen, fast bemitleidenswert verlorenen Posten. Das spürt man allein beim Gespräch mit Wolfgang Thierse, seines Zeichens aus dem Osten stammender SPD-Politiker, Grass-Duzfreund, Bundestagsvizepräsident und nicht primär als Sonntagsredner bekannt.

Thierse versucht Grass immer mal wieder zu widerlegen und weist etwa auf die vielen Milliarden hin, die in den Aufbau Ost gesteckt wurden. Er legt Zahlen vor, dass zwischen 1991 und 2005 immerhin 1,4 Millionen Bundesbürger vom Westen in den Osten gezogen sind (von Ost nach West waren es 2,3 Millionen). Und er sagt auch, dass die DDR-Bürger partout genau in die Bundesrepublik wollten, die es 1989 gab: mit ihrem Wohlstand, ihrem politischen System, ihrem Grundgesetz. Dadurch hätten sie damals als Politiker einfach keine Zeit bekommen, um die im Fall einer Wiedervereinigung im Grundgesetz durchaus vorgesehene Verfassungsänderung nach Artikel 146 lange zu diskutieren und durchzusetzen.

Grass interessiert das nicht. Er spricht störrisch davon, dass durch den Beitritt „von anderen Teilen Deutschlands“ nach Artikel 23 des Grundgesetzes dieses missachtet und die Interessen von 18 Millionen DDR-Bürger einfach ignoriert worden seien. Und er spricht von „Raubtierkapitalismus“, von „Schnäppchen“, die der Westen mit der DDR gemacht hat etcpp.

Es ist Geschichtsstunde im BE, Geschichte wie Grass sie interpretiert. Immerhin sind er und Thierse sich einig, dass die DDR und auch die BRD mehr als nur Fußnoten der deutschen Geschichte waren, wie es der Historiker Hans-Ulrich Wehler insbesondere für die DDR veranschlagt hat (Grass: „Typisch: So spricht ein Sieger über Besiegte“. Thierse: „Ich fühle mich nicht als Besiegter“).

Thierse aber gelingt es nicht, dem Schriftsteller wenigstens einen hoffnungsvollen Ausblick zu entlocken, eine Perspektive für Deutschland. Grass fällt unentwegt zurück in sein Lamento, um zum Schluss wenigstens einmal in die Zukunft zu schauen: „Ich werde mich in den kommenden beschissenen Wahlkampf einmischen.“ Es soll wie eine Drohung klingen. Doch empfinden dieses Vorhaben vermutlich selbst die Menschen als Bedrohung, die ihm wohlmeinen.

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