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Literatur: Unausweichlicher Zusammenstoß

Bogdan Musials neues Buch über die Frage, ob Stalin vor 1941 einen Angriffskrieg gegen Deutschland plante

Michail Tuchatschewski, Kommandeur des Leningrader Kriegsbezirks und später einer von fünf Marschällen der Sowjetunion, legte Anfang 1930 eine Denkschrift zum Ausbau der Roten Armee vor. Zentral war für ihn die Frage nach den Kapazitäten der sowjetischen Wirtschaft. „Heute erlauben uns die Perspektiven der industriellen Entwicklung“, resümierte er, „diese Frage so zu regeln, wie dies den Anforderungen des bevorstehenden großen Krieges entspricht.“ Des „bevorstehenden großen Krieges“? Galt nicht die Sowjetunion der frühen Stalin-Zeit stets als notwendigerweise friedliebend, da sie mit ihren inneren Schwierigkeiten aufgrund von Zwangskollektivierung und forcierter Industrialisierung im Zuge des ersten Fünfjahrplans ab 1929 mehr als beschäftigt war? Tuchatschewski hingegen sah vor, die gesamte Produktion von Kraftfahrzeugen und Traktoren auf Umrüstung für den Kriegseinsatz einzustellen, ja „die bäuerlichen Massen für den Krieg einzusetzen“.

Stalin kanzelte seinen besten Strategen anfangs rüde ab, ging aber bald auf dessen Vorschläge ein. Ende November 1930 beschloss das Politbüro ein umfassendes Programm zum Bau von nicht weniger als 15 000 Panzern binnen nur 15 Monaten – zu einem Zeitpunkt, als Polen, damals der Hauptfeind der Sowjetunion, über gerade einmal 1000 Panzer verfügte! 1932 konnte Kliment Woroschilow, Volkskommissar für das Kriegswesen und einer der engsten Vertrauten Stalins, befriedigt feststellen, „das Jahr 1931/32“ sei „das Jahr des größten organisatorischen Aufbaus der Roten Armee nach dem Bürgerkrieg“ gewesen. Es war nichts anderes als der Beginn einer gigantischen Aufrüstung der Roten Armee für einen Angriffs- und Vernichtungskrieg.

Es gehört zu den Verdiensten des neuen Buches von Bogdan Musial, „Kampfplatz Deutschland. Stalins Kriegspläne gegen den Westen“, die strategischen Diskussionen in den Führungszirkeln von Partei und Armee quellengesättigt darzulegen. Statistiken des Generalstabs machen das rasante Wachstum der Roten Armee deutlich, deren Umfang sich in den 30er Jahren auf 1,9 Millionen Soldaten verdreifachte und die im Mobilisierungsfalle auf knapp neun Millionen Mann anwachsen sollte. Mit solchen Zahlen stützt Musial, der in Polen geborene und seit 1985 in der Bundesrepublik lebende Historiker, seine These, Stalin habe auf einen Angriffskrieg gegen den Westen, und das heißt in erster Linie gegen Deutschland hingearbeitet.

Damit bezieht Musial nunmehr umfassend Stellung in der Diskussion über die „Präventivkriegsthese“. Dabei handelt es sich um die bereits von NS-Propagandaminister Goebbels aufgestellte Behauptung, Hitler habe 1941 den Angriff auf die Sowjetunion befohlen, um einem bevorstehenden Angriff der Roten Armee zuvorzukommen. Demgegenüber steht die Bezeichnung des „Unternehmens Barbarossa“ als „Überfall“, und stets wird erwähnt, dass noch am frühen Morgen des 22. Juni 1941 ein sowjetischer Güterzug mit Getreide vertragsgemäß die Grenze passierte, ehe die Wehrmacht losschlug.

Die Kontroverse um die Präventivkriegsthese beschäftigt die Historikerzunft seit vielen Jahren; verstärkt seit der Öffnung der sowjetischen Archive nach 1991. Dabei ist eine Kriegsplanung Stalins stets als auf die Nazis zurückgehende Schutzbehauptung zurückgewiesen worden. Musial indessen hat tiefer gegraben als seine Kollegen, die der russischen Sprache nicht immer mächtig sind, und zahlreiche unbekannte Dokumente erschlossen. Dabei bezieht der habilitierte Historiker eindeutig Stellung: „Es besteht kein Zweifel, dass der deutsche Überfall auf die UdSSR ideologisch bedingt war und unabhängig von den sowjetischen Vorbereitungen zum Angriffskrieg erfolgte.“ Der beste Beleg dafür ist Goebbels’ ernüchterte Einsicht vom 19. August 1941, also nur zwei Monate nach dem Beginn des Angriffs: „Wir haben offenbar die sowjetische Stoßkraft und vor allem die Ausrüstung der Sowjetarmee gänzlich unterschätzt.“ Kurz und knapp: „Daher kamen auch unsere Fehlurteile.“

„Hitler und seine Generäle hatten weder eine Vorstellung über das tatsächliche Kriegspotenzial der Sowjetunion, noch wussten sie, dass die sowjetischen Vorbereitungen zum Angriffskrieg seit Jahren auf Hochtouren liefen“, fasst Musial die Situation von 1941 zusammen. Der Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939, mit dem sich Hitler die Grundlage für seinen „Lebensraum“-Krieg geschaffen zu haben glaubte, erwies sich im Nachhinein als Geniestreich Stalins: Mit dem „Nichtangriffspakt“ erhielt er das strategische Glacis, das er für den geplanten Angriff auf den Westen benötigte.

Nur sollte dieser Angriff, schließt Musial aus den Rüstungsmaßnahmen, frühestens 1942 stattfinden. Einen konkreten Termin gibt es nicht; Äußerungen Stalins („Erst 1943 wären wir Deutschland gewachsen“) sind quellenmäßig nicht hinreichend gesichert. Immerhin begann im Frühjahr 1941 die serienmäßige Produktion des legendären Panzers T-34, von dem bereits am 1. Juni knapp 900 Stück an die Armee ausgeliefert waren. Es sollte die kriegsentscheidende Waffe werden.

Stalin zeigte sich im Mai 1941 guter Laune. Der von der bisherigen Forschung vielbeachteten Rede vor den Absolventen der Militärakademie, in der Stalin die Erfolge des Rüstungsprogramms hervorhebt und die Komintern-Führer Georgi Dimitrow protokolliert hat, folgten Ansprachen im engsten Führungskreis. „Jetzt aber“, zitiert Musial ein im Russischen Staatsarchiv bewahrtes Stenogramm, „da wir unsere Armee rekonstruiert, sie zur Genüge mit Technik für den modernen Kampf ausgestattet haben, da wir stark geworden sind – jetzt müssen wir von der Verteidigung zum Angriff übergehen.“ Im Original ist die Schlussfolgerung unterstrichen; ihre weitreichende Bedeutung dürfte dem anwesenden Führungszirkel unmissverständlich klar gewesen sein. „Die Rote Armee“, endet Stalin, „ist eine moderne Armee, und eine moderne Armee ist eine Angriffsarmee.“

Musials Buch ist weit mehr als eine Darstellung der Kriegsplanung Stalins. Er führt sie zurück auf Lenins Doktrin von der Weltrevolution und der Vorstellung von der zentralen Rolle, die Deutschland als bedeutendste Nation Mitteleuropas für deren Verwirklichung spiele. Als die erhoffte Revolution im Westen ausbleibt, entsteht der Gedanke, sie mit Waffengewalt nach Deutschland zu tragen und so Europa zu bolschewisieren.

Auch den „Großen Terror“ von 1937/38 vermag Musial, was die Rote Armee betrifft, überzeugend mit den verheerenden Fehlschlägen der Aufrüstung zu erklären. Der Zustand der Streitkräfte war schlichtweg katastrophal, wie zahlreiche Quellen belegen, unter anderem vom durch seine „Politkommissare“ hervorragend informierten Leiter der Propagandaabteilung der Roten Armee, Lew Mechlis. Tuchatschewski, inzwischen Marschall und stellvertretender Volkskommissar – und nebenbei seit den zwanziger Jahren eng mit der Deutschen Wehrmacht vertraut –, wurde zum Sündenbock gestempelt und hingerichtet, Auftakt einer umfassenden „Säuberung“, der binnen weniger Monate allein drei von fünf Marschällen und die Hälfte der 1600 Generäle zum Opfer fielen. Dass Stalin sich zeitlebens vor „Bonapartismus“, also einem Militärputsch fürchtete – weswegen er nach 1945 den Kriegshelden Schukow ins hinterste Sibirien verbannte –, sei den Ausführungen Musials als Bekräftigung hinzugefügt.

Mit seinem Buch kann die „Präventivkriegsthese“ zu den Akten gelegt werden. Doch nicht im Sinne der bisherigen Beschwichtigung der sowjetischen Politik: Denn beide Diktatoren, Hitler wie Stalin, wollten den Gegner vernichten, und beide wollten es als Schritt auf dem Weg zur Weltherrschaft. Dass Hitler den Anfang machte, ist kein Zufall, war aber eben auch keine Prävention. Früher oder später, lehrt uns Bogdan Musial, wäre es ohnehin zum Zusammenstoß der beiden Diktaturen gekommen. Ab Januar 1945 konnte Stalin den Krieg endlich dort führen, wo er ihn schon immer hatte führen wollen: im Land des Feindes.

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