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Literatur: Unter Menschentieren

Umsonst leben: Neue Gedichte von Günter Kunert

Günter Kunert liebt Figuren des Scheiterns. Selbst als seine Gedichtbände noch „Unterwegs nach Utopia“ (1977) hießen, war darin schon der katastrophische Stillstand des Geschichtsprozesses vermerkt. Zur geschichtsphilosophischen Signatur seines lyrischen Werks hat Kunert früh die antike Gestalt des Ikarus erhoben, der einst mit seinem zarten Flugapparat der Sonne zu nahe kam – mit tödlichen Folgen. Auch in seinen neuen, opulenten Band „Als das Leben umsonst war“ mit über 130 Gedichten gibt es zwei Ikarus-Gedichte.

Nun macht aber auch hier bisweilen der Leierkasten des apokalyptischen Weltgefühls seine Arbeit: „Leben / als Stundenglas, durchlaufen / von Vergeblichkeit und Melancholie. / Gefäß ohne Inhalt …“ Solche Verse verstärken das Vorurteil, Kunert komme als „Kassandra von Kaisborstel“ nicht mehr los von der Misere im anthropologischen Großformat. Aber wer Kunert nur als Apokalyptiker wahrnimmt, hat ihn nicht richtig gelesen.

Im Nachkriegsberlin ließ sich der Sohn einer jüdischen Mutter zunächst vom Weltveränderungspathos Brechts faszinieren. Den bitteren Rest dieser Euphorie protokolliert im neuen Band ein Gedenkgedicht an Brecht, das nüchtern festhält, dass es „keine Nachrichten mehr an Nachgeborene“ gibt. In den sechs großen Kapiteln seines Buches zieht Kunert die lyrische Bilanz seiner negativen Geschichtsphilosophie. Gewiss ist da in einigen Gedichten ein routiniertes Missvergnügen am Werk. Aber vor allem in den zwei letzten Kapiteln wird der Sarkasmus so boshaft, dass man Kunerts Humor nur bewundern kann. Hier finden wir die schwärzesten Gedichte zur Conditio humana, die im 21. Jahrhundert geschrieben wurden: „Verendet im Existieren / ist jegliches Dasein zubald. / Unter den Menschentieren / als schattenhafte Gestalt / wird niemand dich vermissen, /dein Platz bleibt nicht lange leer. / Vor den bunten Kulissen / lebt jedermann suizidär.“

Wer zu Kunerts 80. Geburtstag am vergangenen Freitag seine Vorurteile loswerden will, lese das Kapitel „Nach Heine“: Nicht nur der schwarze Humor nötigt Respekt ab, sondern sein ironisch die biologischen Begrenzungen auslotender Erotismus. Das unsentimentale Alterswerk eines großen Skeptikers. Michael Braun

Günter Kunert:

Als das Leben umsonst war. Gedichte. Carl-Hanser-Verlag, München 2009,

160 Seiten, 15,90 €.

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