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Verbrecher JAGD: Haltlosigkeit und allgemeine Schwäche

Kolja Mensing schreibt hier regelmäßig über Krimis. Heute entdeckt er einen Enkel von Georges Simenon.

Es passiert erst einmal gar nichts. Christian Pernath erzählt in seinem Kriminalroman „Ein Morgen wie jeder andere“ (aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger, DTV, München 2009, 216 Seiten, 14,90 €) von einem Mann namens Bélouard, einem in die Jahre gekommenen Junggesellen, der in einem Dorf in der Bretagne als Tierarzt arbeitet. Bélouard leidet unter seinem eintönigen Leben. Es ist ein „vages Gefühl von Haltlosigkeit und allgemeiner Schwäche“, das ihn bereits am Vormittag überkommt, wenn er in seinem ausgebeulten Anzug in seiner Praxis sitzt und darauf wartet, eine Katze oder einen Hund behandeln zu dürfen, und das ihn auch dann nicht verlässt, wenn er am Nachmittag mit seinem Auto über das Land fährt, um nach ein paar Schweinen zu sehen. Manchmal, wenn er in einer der Illustrierten geblättert hat, die sich im Hinterzimmer seiner Praxis stapeln, träumt er davon, Löwen, Warane oder Nilpferde zu behandeln, doch die Vorstellung, in weiter Ferne ein neues Leben zu beginnen, tröstet ihn nur einen kurzen Moment: „Wer sagt denn, dass es in Benares oder Samarkand nicht genauso sterbenslangweilig ist wie hier.“

Und dann passiert doch etwas. Auf einem der Höfe in der Umgebung hat sich ein Verbrechen ereignet. Eine ganze Familie ist ermordet worden, ein Ehepaar, seine Kinder und die Großmutter. Reporter belagern das Dorf, Polizisten schwärmen aus, doch Bélouard bekommt all das nur am Rande mit, da sein Leben zur gleichen Zeit durch ein ganz anderes Ereignis erschüttert wird. Er hat bei einer seiner Fahrten über das Land eine verletzte Frau am Straßenrand aufgelesen.

Es ist Claire Brunel, eine Nachbarin, die seit Jahren von ihrem Mann geschlagen wird. Bélouard lässt sie einige Tage bei sich wohnen, und zwischen der verbitterten jungen Frau und dem traurigen Tierarzt entspinnt sich in dieser Zeit eine keusche Freundschaft, während der Mordfall weiterhin die Gespräche im Dorf bestimmt. Die Polizei vermutet ein „Verbrechen aus Leidenschaft“, sie nimmt einen Verdächtigen in Gewahrsam, muss ihn allerdings aus Mangel an Beweisen wieder laufen lassen. Weitere Hinweise auf einen Täter gibt es nicht. Wieder passiert erst einmal: nichts.

Was ist das für ein Buch? Dieser Roman hat wenig gemeinsam mit den blitzgescheiten, leicht skurrilen Krimis, mit denen Fred Vargas seit Jahren die Szene Frankreichs dominiert, er ist weit entfernt von dem internationalen Bestseller-Format, das Jean-Christophe Grangé mit seinen Action-Thrillern bedient, und der 1959 in Nantes geborene Christian Pernath teilt ganz offensichtlich auch nicht die politischen Ambitionen des néo-polar. Man muss schon ein bisschen weiter zurückgehen, um einen Bezugspunkt zu finden – zu Georges Simenon und den romans durs, den Büchern, in denen es nicht um seinen berühmten Kommissar Maigret geht. Das Wort „dur“ darf man nicht mit hart übersetzen. Es bedeutet in diesem Fall eher streng, und die besten dieser Romane – „Das Haus am Kanal“, „Die Marie vom Hafen“ oder „Die Verlobung des Monsieur Hire“ – eröffnen ihren Lesern unter dem Deckmantel einer vermeintlich leicht erzählten Geschichte tatsächlich einen gnadenlosen Blick auf die dunkle Seite der menschlichen Seele.

„Ein Morgen wie jeder andere“ steht ganz in dieser Tradition. Christian Pernath beschreibt mit einfachen, einfühlsamen Worten das Drama eines einsamen Mannes, der unter außerordentlichen Umständen zurück ins Leben zu finden scheint: Die gemeinsamen Mahlzeiten mit Claire, Gespräche über Bücher und Filme und ein gemeinsamer Ausflug ans Meer mit einem Picknick am Strand lassen Bélouard für einen kurzen Moment seine Verzweiflung und seine krankhafte Langeweile vergessen. Fast ist es eine rührende Geschichte, doch auch das Glück trägt pathologische Züge.

Bélouard ahnt, dass es eine Verbindung zwischen Claire und dem Mord in seiner Nachbarschaft gibt, und trotzdem verdrängt er diese Erkenntnis immer wieder, um einen weiteren „friedlichen Abend“ mit ihr zu gewinnen. Bélouard treibt auf einen Abgrund zu, aber er stürzt nicht ab. Zuletzt ist er einfach wieder ganz allein. Es ist, als ob gar nichts passiert wäre. Das ist das Schlimmste.

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