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Literatur: Vergessliche Ungeheuer

Nachrichten aus dem vorrevolutionären Paris: Ferdinando Galianis philosophische Lästereien

Als Voltaire 1778 starb, versuchte der französische Klerus mit allen Mitteln, dessen kirchliche Beisetzung zu verhindern. „Zum Teufel“, schrieb der Abbé Galiani von Neapel nach Paris, wo man sich in Aufklärerkreisen bestürzt darüber zeigte, dass dem „Unsterblichen“ die letzte Ehre vorenthalten werden sollte, „man begräbt nur die Toten. Jesus Christus liegt nirgendwo begraben. Warum soll der Antichrist irgendwo begraben liegen?“

Mit solchen Spitzfindigkeiten amüsierte Galiani seine Brieffreundin Louise d’Epinay, die im vorrevolutionären Paris einen jener Salons unterhielt, die über Frankreich hinaus tonangebend waren. In befreiender Distanz zum Versailler Hof hatten sich die Enzyklopädisten um Diderot, radikale Denker wie Helvétius und Holbach getroffen, um das galante Diner mit der Diskussion, die geschliffene Konversation mit der philosophisch-politischen Debatte zu verbinden.

Zehn Jahre lang war auch der 1728 in den italienischen Abruzzen geborene Ferdinando Galiani begehrter Teilnehmer dieser illustren Zusammenkünfte. Bereits als 16-Jähriger hatte er sich durch eine originelle Spottschrift die Protektion von Neapels Reformminister Tanucci gesichert. Mit Anfang zwanzig verfasste er sein weithin beachtetes ökonomisches Werk „Über das Geld“. 1759, nach Erhalt der niederen kirchlichen Weihen, kam er als neapolitanischer Gesandtschaftssekretär nach Paris. Tagsüber lockerte der 1,50 Meter große Galiani die Monotonie seiner diplomatischen Pflichten mit kleinen Boshaftigkeiten gegen den ungeliebten Vorgesetzten auf, abends lief er in Gesellschaft der „philosophes“ und Damen von Welt zu Höchstform auf. Die Pariser Chefintellektuellen schwärmten vom „Harlekin mit dem Haupt eines Machiavell“, von „Witz, Ausgelassenheit und Neckerei“, die eine Gesellschaft erfassten, sobald der kleinwüchsige Abbé anwesend war.

Galiani arbeitete 1769 gerade an einem weiteren ökonomischen Werk, den später von Voltaire bis Marx gelobten „Dialogen über den Getreidehandel“, als er wegen eines diplomatischen Missgeschicks wieder in die Heimat zurückkehren musste. Es war die Katastrophe seines Lebens: „Ich habe in Neapel kein anderes Glück, als im Geiste nicht hier zu sein“, schrieb er zu Beginn eines fast zwei Jahrzehnte andauernden Briefwechsels mit seinen Pariser Vertrauten.

In „Nachrichten vom Vesuv“ hat Wolfgang Hörner eine repräsentative Auswahl dieser Korrespondenz, mit sorgfältigen Anmerkungen und lesenswerten Zwischentexten versehen, zu einem Panorama dieses eigenwilligen Geistes zusammengefügt. Zusätzlich finden sich darin Auszüge aus Galianis beiden ökonomischen Schriften und seinen „Horazstudien“. Die Briefe an Melchior Grimm, d’Alembert, Diderot und – allen voran – an Mme d’Epinay sind eine einzigartige Mischung aus charmantem Plauderton, Gift, Melancholie, Klamauk und Intelligenz. Böse und spontan ist Galianis Witz, wenn er gegen Neapel, die Jesuiten, die Physiokraten und Rousseaus Erziehungsideal austeilt. Mit Anreden wie „vergessliches Ungeheuer!“ und „fauler Philosoph“ bombardiert er seine Freunde, sobald er sich vernachlässigt fühlt.

Noch hemmungsloser schmeichelt er ihnen, hält sie bei Laune mit Zeilen wie „welche Gotteslästerung! Sie nennen einen Brief, den Sie ganz mit eigener Hand geschrieben haben ... einen Fetzen!“ Leidenschaftlich inszeniert er sich selbst als geschwätziger, zahnloser Katzennarr ebenso selbstironisch als mondäner Snob. Sein Stil ist dabei derart ausgefeilt, dass man fast vor Augen hat, wie er im Spott die Braue hebt oder angeödet das Gesicht verzieht. Aus der Not heraus ist Galiani das Kunststück gelungen, den Funkenregen seiner Pariser Salongespräche mit den Mitteln der Schrift fortzuführen – auch wenn die Verbitterung über den Verlust seiner Wahlheimat mit den Jahren immer deutlicher hervortrat.

In seinen Briefen gibt es keine Hierarchie der Themen. Alltäglichkeiten widmet er sich mit gravitätischer Aufmerksamkeit, zu den weltpolitischen oder philosophischen Themen der Zeit bezieht er in wenigen originellen Sätzen Stellung. Galiani, der jeden Gesprächspartner durch seine Schlagfertigkeit verblüffte, behielt auch in Fragen der Wirtschaft, Politik oder Erziehung stets das Hier und Jetzt im Blick. Seine Ansichten zeugen von einem radikalen Pragmatismus. Umstürze lehnte er ebenso ab wie die „Systematisierungswut“ rationalistischer oder naturrechtlicher Theorieentwürfe.

So sehr er den Pariser Aufklärern persönlich verbunden war, von dem Vernunftoptimismus der Zeit ließ er sich nicht vereinnahmen: Madame d’Epinay beklagte in einem Brief die „Sittenverderbnis“ als den Grund für den Verlust der Heiterkeit. Galiani antwortete, dass dies vielmehr der „fabelhaften Vermehrung unserer Kenntnisse“ anzulasten sei: „Durch unsere Aufklärung haben wir mehr Leere als Völle gefunden, und im Grunde wissen wir, dass unendlich viele Dinge, die unsere Väter für wahr hielten, falsch sind; aber wir wissen sehr wenig wahre, die Ihnen unbekannt waren.“

Trotz seines Intellekts war Galiani ein Repräsentant des Ancien régime: in der Eigentümlichkeit seines Charakters, der bei allem „unerträglichen Kitzel zu sprechen“ die Einsamkeit vorzog, wo er nicht auf „Leute nach seinem Geschmack“ traf, ebenso wie in seinem radikalen Stilempfinden, das ihn zum Gegner der Pressefreiheit machte. Mit letzterer, glaubte der weltliche Abbé, sei die „Kunst, alles zu sagen, ohne in die Bastille gesteckt zu werden“, dem Untergang geweiht; vulgären Plattitüden stünden Tür und Tor offen.

Als schillernder Skeptiker ragt Galiani in die Aufklärung hinein, als galanter Anarchist in die moralische Ernsthaftigkeit einer neuen Epoche. Er wünschte sich „ein Kolossalstandbild, damit die Nachwelt nicht wisse, wie klein mein Wuchs war“. Es hätte ihm wahrscheinlich dennoch geschmeichelt, dass ein neuer Berliner Verlag sich nach ihm benannt hat.

Ferdinando Galiani: Nachrichten vom Vesuv. Briefe, Blitze, Lästereien. Aus dem Französischen u. Ital. von Franz Blei u.a. Hg. von Wolfgang Hörner. Galiani Verlag, Berlin 2009. 304 S., 24,95 €.

Marianna Lieder

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