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Véronique Olmi: Kleine Sorgenscheiben

Der Satzfluss sprudelt hier erregt vor sich hin. Dominoeffekt der Emigration: Véronique Olmis Roman "Die Promenade"

Wenn Kinder in Romanen die Erzähler sind, herrscht gern Atemlosigkeit. Kindliche Stimmen rasen für gewöhnlich durch das Geschehen, die vermeintliche Naivität oder die schalkhaft gute Laune drücken aufs Erzähltempo. In dem neuen Roman der französischen Autorin Véronique Olmi, der in Nizza spielt und „Die Promenade“ heißt, ist es dagegen ein tief sitzendes, sozusagen von Generation zu Generation angewachsenes Schuldgefühl, das die 13-jährige Sonja durch die Handlung hetzen, sich in Übertreibungen steigern und in Wiederholungen verfangen lässt. „Ich rannte, ohne zu wissen, dass ich gerade alles in die Luft gejagt hatte.“

Sonja ist, so glaubt sie, an allem schuld: an der Trennung der Eltern; daran, dass die Mutter sie zur Großmutter – eine russische Emigrantin – abgeschoben hat; und irgendwie sogar daran, dass diese Großmutter in ihren alten Russlanderinnerungen gefangen bleibt, unablässig von ihrer vorrevolutionären Jugend, von Tschechow, Puschkin und dem furchtbaren Massaker erzählt, dem die Zarenfamilie zum Opfer fiel.

Täglich schreibt sie in schlechtem Französisch einen Brief an den Chefredakteur der Zeitschrift „Historia“, in dem sie um ein persönliches Gespräch bittet, bei dem sie ihm und nur ihm die Wahrheit über den Tod der Zarentochter Anastasia offenbaren möchte. Selbstredend antwortet der Chefredakteur nie, und die eingeschüchterte Sonja hat die Launen, Ermahnungen und Verbote ihrer eisernen Babuschka zu ertragen, deren Gewicht sie tapfer auf die eigenen Schultern nimmt. „Ich hatte meine Großmutter nicht schützen können. Ich hatte ihr Ängste vergessen, hatte vergessen, wie sie die Zeit zählt, sie in kleine Sorgenscheiben teilt.“

Auch wenn die Aufgeregtheit des Kindes grundsätzlich zum Daueralarm seines traurigen Lebens passt – der Lektüre ist die Panik eher abträglich, weil der Satzfluss zu erregt vor sich hinsprudelt und das Drama, das jeder Absatz behauptet, nicht zur noch putzig anmutenden Enkelin-Großmutter-Konstellation passt. Das Ausmaß von Sonjas Isoliertheit, das klaustrophobisch enge, von Neurosen der Großmutter bestimmte Zusammenleben, die Unbehaustheit der tief traumatisierten Dame, die auf alles und jeden schimpft und überall die unsichtbaren Finger des KGB vermutet – das alles gewinnt erst an Glaubwürdigkeit und Sog in dem Moment, in dem die Autorin auch die lieblosen, überforderten Eltern ins Spiel bringt und der Schmerz des Mädchens beißende Tiefenschärfe erhält.

Plötzlich ist da die fahrige Stimme der Mutter am Telefon. Wie eine Schauspieldiva bestellt sie die Tochter in ein Café, um ihr mitzuteilen, dass sie den nächsten Zug nach Paris nehmen wird. Schon ist sie auf dem Bahnsteig und im nächsten Moment wieder verschwunden, und die Tochter weiß nicht, ob sie das Konspirative dieser Begegnung als gutes oder schlechtes Zeichen lesen soll: als herzlosen Abschied einer Mutter, die sie wegen eines diffusen Ich-muss-hier-weg-Impulses ein zweites Mal verstößt – oder als subtiles Versprechen, sie in die Metropole nachzuholen, sobald die Mutter dort eine passende Wohnung gefunden hat. Sonja taucht bei ihrem ratlosen Vater auf, quält ihn eine Weile mit der Vorstellung, sie könne wieder bei ihm einziehen, um dann ein paar Sachen in den Rucksack zu packen und endgültig von ihrer Kindheit Abschied zu nehmen.

In diesen beklemmenden Szenen wird deutlich, worum es Olmi geht: Sie zeigt den Dominoeffekt der Emigration, eine Familie ohne Bodenhaftung, in der niemand in der Lage ist, sich um den anderen zu kümmern, aber Argwohn und Angst auch über die Entfernung hinweg zuverlässig weitergegeben werden.

Es ist schließlich das Lachen, das Sonja im letzten Drittel der Handlung aus dem Labyrinth der Ohnmacht führt. Sie begegnet einem Jungen, der auf der Straße Passanten nachmacht und von einem Studium bei Marcel Marceau träumt, also von der Kunst – genauso wie Sonja, die später Schriftstellerin werden will. Denn Schriftsteller dürfen lügen – im Namen einer höheren Wahrheit. Um das Leiden der Großmutter endlich zu beenden, fingiert Sonja – ihr erstes dichterisches Werk – einen Antwortbrief des Chefredakteurs. Die Rechnung geht zwar nicht auf. Aber Babuschka nimmt sie zum ersten Mal als gleichwertigen Menschen wahr und zeigt am Ende dieses vielschichtigen Porträts, das dieser Roman eigentlich ist, sogar ihr Herz.

Véronique Olmi:

Die Promenade.

Roman. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Verlag Antje Kunstmann, München 2009. 238 S., 18,90 €.

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