zum Hauptinhalt

Vor dem Nürnberger Gericht suchten alle nur Entlastung: So behandelt man doch keinen General!

Jens Brüggemann zeigt, wie sich hohe Wehrmachtsoffiziere aus der Verantwortung stahlen

Der Versuch einer Rekonstruktion der Vergangenheit ist wie ein Puzzle“, schreibt ganz am Anfang seiner umfangreichen wissenschaftlichen Untersuchung „Männer von Ehre?“ der Historiker Jens Brüggemann. Er hat ein Riesenpuzzle gelegt, 600 Seiten lang, mit Fußnoten bewehrt, fast 200 Seiten Dokumente und Quellen. Ein wissenschaftliches Werk eben, Band 112 der Reihe „Krieg in der Geschichte“. Nein, dies ist weder ein Buch für den Nachttisch, noch für den coffee table.

Und doch ist es auch für den Laien ein hochinteressantes Leseerlebnis, wenn er sich in die dichte Schreibe eingelesen hat. Die Nürnberger Prozesse scheinen Stoff für Geschichtssendungen, entrückt, mehr als 80 Jahre zurückliegend. Doch welche Herkulesaufgabe sie für die Siegermächte bedeuteten, welche Logistik nötig war, um die hohe Zahl der Angeklagten und Zeugen unterzubringen, zu ernähren, zu befragen, das erfährt man in Brüggemanns Darstellung mit Staunen und sehr genau.

Die Angeklagten mussten am Leben bleiben

Amerikaner und Briten wollten sichtbar und transparent in den hier geschilderten Prozessen die deutsche Generalität für gigantische Menschheitsverbrechen zur Verantwortung ziehen, hatten dafür außer ihren eigenen Rechtssystemen aber keine Blaupause. Regime Change, das zeigt diese genaue Beschreibung der täglichen Administration, ist keine leichte Sache, sondern eine Mammutaufgabe, für die oft das passende Personal fehlte. Soldaten mussten auf einmal dafür Sorge tragen, dass die Gefangenen weder durch ein Attentat umkommen noch durch Selbsttötung sich dem Prozess entziehen konnten.

Im Gefängnis Klagen über die Verpflegung

Das größte Erstaunen ergreift einen indes, wenn man liest, was die eingesperrte Generalität so beschäftigte. Deutschland lag in Trümmern, zwölf Millionen Flüchtlinge aus den verlorenen Gebieten drückten in ein Land des Hungers und der Zerstörung hinein, Abermillionen hatten ihr Leben verloren, waren ermordet oder vertrieben worden – und was vertrauten die Generäle ihren Kalendern, Notizbüchern oder den wenigen Briefen an? Gedanken übers Essen. Mal klagen sie über Hunger, mal über Einseitigkeit der Ernährung, dann und wann wird vermerkt, dass das Essen gut sei, auch ausreichend. Sie müssen auf Strohsäcken schlafen oder vermissen Kopfkissen, und sie klagen über nicht geziemende Behandlung: „So behandelt man doch keinen gefangenen General“, notierte Generaloberst Hans-Georg Reinhardt fassungslos. Es fehlt ihnen das sprichwörtliche Silberbesteck. Die Gefangenschaft wurde als Deklassierung erlebt, wie Brüggemanns Quellen bezeugen. Die Abwesenheit jeden Schuldbewusstseins, die Selbsttäuschung der Offiziere angesichts ihrer Lage, ist bestürzend zu lesen.

Brüggemann beschreibt, wie Soldaten demokratischer Armeen die wilhelminische Sozialisation der führenden Offiziere vollkommen fremd war. Die abgehobene Sonderstellung des Offizierskorps im Kaiserreich, ihr Absturz nach dem Versailler Vertrag – Neuland. Der Korpsgeist übrigens, der von den hohen Offizieren immer gern hochgehalten wurde, versagte während des Prozesses insbesondere gegenüber den Generälen Keitel und Jodl. Um die eigene Haut zu retten, wurde auf sie viel Schuld abgewälzt. Gegenüber Heerführern wie Leeb, Warlimont, Reinhardt hatten sie das Pech, als Schreibtischtäter massenhaft Befehle unterzeichnet zu haben. Keitel war als Verwaltungsspezialist hauptsächlich für die Umsetzung der militärischen Vorstellungen Hitlers verantwortlich, einschließlich kriegsvölkerrechtswidriger Befehle. Jodl war über die Jahre, so Brüggemann, zum „wohl engsten militärischen Berater Hitlers avanciert“.

Todesstrafe für Schreibtischtäter

Diese beiden Männer wurden denn auch zum Tode verurteilt. Eine Strafe, mit der beide nicht gerechnet hatten. Die Funktionseliten, anders als sie das im Prozess mithilfe ihrer Verteidiger darzustellen versuchten, waren bis zum Schluss positiv gegenüber dem Regime und der Fortführung des Krieges eingestellt gewesen.

Um die positive Einstellung respektive die Leugnung dieser Einstellung der Generalität geht es in diesem Opus. In Nürnberg wurde die Legende gezimmert, dass die Wehrmacht aus tüchtigen und unpolitischen Menschen bestand. Die Bösen, das waren die in der SS. Die Befrager mokierten sich zuweilen, wenn die Lügerei oder der reklamierte Gedächtnisschwund der vormaligen Befehlshaber ihnen zu dumm wurde.

Kein Verbrechen nachgewiesen

Ein Verhörprotokoll mit General Förtsch, dem Chef des Stabes der Heeresgruppe F, macht das deutlich. Zu Geiselerschießungen in Jugoslawien befragt, stammelt Förtsch irgendetwas von Feldgerichten. „Nein, nein, nein … Herr General, wir wollen doch nicht naiv sein … wir wollen jetzt nicht darüber reden, dass diese Leute vor Militärgerichte gestellt worden sind … Man benutzt nicht das Wort Vergeltung aufgrund eines Militärgerichts.“ General Förtsch wurde freigesprochen , weil ihm zwar Kenntnis völkerrechtswidrigen Handelns nachgewiesen werden konnte, nicht aber zweifelsfrei eine Involvierung. Er war später wichtig für den Aufbau der neuen Bundeswehr.

Das Narrativ der guten Wehrmacht hielt sich trotz immer besserer Quellenlage bis in die neunziger Jahre. Erst die Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944“ von 1995 vermochte, den Schleier von dieser Lüge zu reißen. Trotz berechtigter Kritik an fehlerhaften Details der Ausstellung war es – so Brüggemann – „ihr Verdienst, nicht nur eine bis dahin unterbliebene öffentliche Debatte zum Konnex von Wehrmacht und Verbrechen angestoßen, sondern auch das Interesse der Forschung stärker auf dieses Feld gelenkt zu haben“. Seine Dissertation ist dafür ein weiterer Beleg.

Jens Brüggemann: Männer von Ehre? Die Wehrmachtsgeneralität im Nürnberger Prozess 1945/46. Zur Entstehung einer Legende. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2019. 632 S., 39,90 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false