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ZeitSCHRIFTEN: Taugenichts und Söhne

Gregor Dotzauer über die Eroberung von Städten und Erinnerungen

Von Gregor Dotzauer

Die reizvollsten Abenteuer beginnen oft gleich um die Ecke. Eine dérive zum Beispiel unternimmt man allein, besser noch zu zweit oder dritt, und idealerweise nimmt man sich dafür einen ganzen Tag lang Zeit, vom Erwachen bis zum Schlafengehen. Stromern, streunen, strolchen oder herumstrawanzen: Das Deutsche kennt viele Wörter, die dem französischen „aller à la dérive“ nahe kommt, aber keines, das die philosophische Tiefe erfasst, mit der Guy Debord dieses „Sichtreibenlassen“ zur Methode erklärt hat.

Eichendorffs vagabundierender Taugenichts wollte in romantischer Inbrunst die unendliche Natur umarmen; der dériveur erobert einen städtischen Raum. Baudelaires Flaneur, eine durch allzu häufige Erwähnung zum Feuilletonhanswurst verkommene Figur, wurde sich in der Menge seiner Melancholie bewusst; die surrealistisch geprägte „Théorie de la dérive“, wie sie Debord 1956 formulierte (www.larevuedesressources.org), ein Jahr vor Gründung der Situationistischen Internationale, deren revolutionärer Kopf er wurde, ist dagegen sehr wohl auf die Erweckung politischer Gefühle aus. Mit dem bewussten Einsatz des Unbewussten stellt sie eine „Psychogeografie“ jenseits überkommener sozialer und ökonomischer Grenzen her.

Die neueste Anwältin der dérive, die englische Schriftstellerin und Kulturhistorikerin Marina Warner, die an der University of Essex lehrt, hat unter Berufung auf Debord gleich ein neues Genre ausgemacht: das memory mapping. „Es gehört“, schreibt sie im Leitessay zu der gemeinsam mit dem Londoner Victoria and Albert Museum eingerichteten Projektwebsite www.vam.ac.uk/memorymaps, „nicht automatisch in ein bestimmtes Buchladenregal oder zu einer besonderen Kategorie in einem Bibliothekskatalog. Autoren dieser Art erforschen Menschen und Orte und die Beziehungen zwischen ihnen, und um das zu tun, verbinden sie Fiktion, Geschichte, Reisebericht, Autobiografie, Anekdote, ästhetische Erwägungen, die Leidenschaft für Altertümliches, Gespräch und Memoiren. Zum Kartieren von Erinnerungen gehört es ebenso sehr, den Gespenstern anderer Leute zu lauschen wie den eigenen.“

Als Inbegriff des memory mapping betrachtet sie „Die Ringe des Saturn“, eine „Wallfahrt“ des deutschen Schriftstellers W.G. Sebald durch die Grafschaft Suffolk. Und als leuchtendes Beispiel V.S. Naipauls Roman „Das Rätsel der Ankunft“, in dem der in Trinidad geborene Nobelpreisträger aus dem Gartenhäuschen eines verfallenen Herrensitzes in der Nähe von Stonehenge heraus das Verhältnis zu seiner Wahlheimat klärt.

Verbündete hat Warner in Ronald Blythe, dem Autor des Dorfporträts „Akenfield“, und in Iain Sinclair („Lights Out for the Territory“) gefunden, aber auch in dem Musiker Billy Bragg. Sie alle untersuchen, von Essex ausgehend, Fragen nach Heimat, Identität und ökologischer Verpflichtung – letztlich aber geht es um Widerstand gegen die Entmaterialisierung der Welt. Denn das Internet, stellt Marina Warner fest, erschließt uns „einerseits eine unendliche Verbundenheit mit allem und jedem“. Andererseits „können wir ebenso gut Luftgitarre spielen oder Küsschen verteilen, ohne einander zu berühren“. Es handelt sich, schon weil Warner sich selber der audiovisuellen Möglichkeiten des Internets mit Fleiß bedient, nicht um ein kulturpessimistisches Ach und Weh, sondern um den Versuch, der Herausbildung unserer kognitiven Fähigkeiten auf den Grund zu gehen.

Im aktuellen Heft von „Sinn und Form“ (2008/3), das mit Aufsätzen von Thomas Fuchs „Zur Phänomenologie des Schmerzgedächtnisses“ und Sebastiano Timpanaro („Freuds Rom-Phobie“) einen schön komponierten Schwerpunkt zum Thema Erinnerung enthält, sammelt Warner Belege dafür, dass das Buch bei Menschen tiefere Spuren hinterlässt als der Bildschirmtext. Ihr Essay „Das entkörperte Wort – Das Gedächtnis im Cyberspace“ enthält eine ganze Reihe von Beispielen, wie sehr das geistige Auge auf das Fleisch des Wortes angewiesen bleibt: „Die ästhetische Erfahrung ist kein elitärer Artikel, sondern reine Lebenskraft.“

Wir sollten, fordert sie, „die Literatur und das Lesen anders behandeln als das Nachschlagen in einem Benutzerhandbuch und das Aufbauen von Ikea-Möbeln“. Und: Wir sollten Bedingungen sichern oder schaffen, „die eine konzentrierte Lektüre gewährleisten“. „Erst das individuelle Lesen in einem materiellen Buch mit eigenem, besonderen Charakter, in einer idiosynkratischen, schönen Umgebung eröffnet dem Geist die Freiheit, sich in die Fantasie zu erheben.“

Wie breit sich das mapping jenseits von Marina Warners Projekt entwickelt hat, darüber informiert in englischer Sprache www.ctrl-n.net/journal, ein von Olivier Ruellet betriebener Blog, der auf viele einschlägige Seiten verlinkt. Ob man also die Wanderstiefel oder die Turnschuhe schnürt, über Land zieht oder durch die Stadt, ist längst keine Frage mehr: Allons enfants à la dérive!



Gregor Dotzauer,

schreibt an dieser Stelle regelmäßig über Zeitschriften

und Websites.

Nächstes Mal:

Oleg Jurjew

über Klassiker.

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