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Zum 125. Geburtstag: Grazie und Grausamkeit

Die Axt im Eis unserer Seele: Warum Franz Kafkas unergründliche Erzählungen bis heute die Welt bewegen.

Plötzlich wieder Kafka. Geboren in Prag am 3. Juli 1883. Der 125. Geburtstag, der morgen gefeiert wird, ist ja kein rundum zwingender. Trotzdem gibt es jetzt Ausstellungen, Lesungen, Diskussionen allüberall und zudem gewichtige neue Bücher und CDs über Kafkas Leben, Werk und Wirkung. Ist das vermessen? Oder aber: Ist schon diese Frage - verrückt?

Franz Kafka, der im Juni 1924, mit kaum 41 Jahren buchstäblich zum Schweigen verurteilt, an Kehlkopftuberkulose starb, hat drei unvollendete Romane, einige Dutzend Prosastücke, etwa 3400 Seiten Tagebuchaufzeichnungen und literarische Skizzen sowie 1500 Briefe hinterlassen. Gedruckt beansprucht das Werk weniger als einen halben Meter Platz im Bücherregal. Doch die Literatur über den deutsch sprechenden, schreibenden Juden aus Prag füllt weltweit Bibliotheken. Ein immer weiter anschwellender Kopfgesang.

Orson Welles hat ihn verfilmt, Andy Warhol gemalt, und schwarzhäuptig, fledermausohrig ziert sein Antlitz die Zuckertüten in einem Prager Café, mitten im einstigen Ghetto. Kafka als Zuckerl und seine Dichtung der Kaffeelesesatz der Moderne. Tschechow, Proust, Joyce, Thomas Mann, Brecht, Beckett, Borges, Nabokov und Garcia Marquez sind unsere Jahrhundertschriftsteller. Doch Kafka ist ein Stück Ewigkeit.

Franz Kafka
Bilder eines Schriftstellers. Kafka, geboren am 3. Juli 1883, vom Kind bis zum letzten Porträt, aufgenommen im Oktober 1923 im Berliner Kaufhaus Wertheim. -

© Archiv Wagenbach

Heerscharen suchten den Grund dafür in einer vermeintlich geheimen, gleichwohl magisch-suggestiven Bedeutung des Werks. Susan Sontag in ihrer berühmten Studie "Against Interpretation"nannte Kafka darum das "Opfer einer Massenvergewaltigung". Es sei die dreifach liebende Gewalt derer, die Kafkas Texte entweder als "soziale Allegorie lesen" und darin Fallstudien einer irrsinnigen neuzeitlichen Bürokratie erkennen. Oder die seine Prosa als "psychoanalytische Allegorie" der Angst vor dem übermächtigen Vater, vor der verschlingenden Sexualität und dem Gefühl "seiner Traumhörigkeit" verstehen. Die dritte Armee der Interpreten versuche, den weltlichen Juden Kafka noch religiös zu erobern: Im Roman "Das Schloss" sei die für den Landvermesser K. unerreichbare, verbotene Festung dann das himmlische Jerusalem. Und das unerklärliche Verhängnis von Josef K. im "Prozess" ein verborgenes Gottesurteil.

Ähnliches widerfährt später auch Samuel Beckett bei der weltweiten Godot-Suche. Aber genau betrachtet, rächen sich Kafkas Imaginationen immerzu an den Ein-Deutern. Beispielsweise ist das von K. ersehnte Schloss nicht nur eine Lockung. Sondern ebenso eine unheimliche Drohung, niemals ein Paradies, vielmehr ein erhabener Abgrund. Die Spione, die tausend Augen in einer eigentlich gruselig archaischen Bauerngegend, die sirenengleichen Stimmen in den Telefonen lassen den 1922 als Fragment abgebrochenen Roman längst vor Orwell, vor den modernen Geheimdiensten oder den Scheinwelten eines "Second Life" als geisterhafte Vorahnung erscheinen. Keine religiöse Transzendenz, eher eine weltliche Überschreitung, eine existentielle Grenzverrückung.

Das wäre der Kern. Wenn es denn einen Kern gäbe. Doch sind Hülle und Fülle, Sprache, Form und Inhalt hier nie voneinander zu scheiden, sie sind in Kafkas kristallinen, kühl harten Sätzen untrennbar verschmolzen. Es gibt bei ihm nicht das, was Hemingway "Five-Dollar-Words" nannte: keine prunkvollen Adjektive, auch kein rührendes Sentiment und also keine weichen Stellen, in welche die Sonden der Interpreten, der Bedeutungssucher, leichter eindringen könnten.

Natürlich gibt es, wie bei jedem Kunstwerk, die biografischen Spuren: bei der familiären Abrechnung im "Brief an den Vater"; beim Horror und der Faszination des studierten Juristen an Gesetzen, Strafen, Urteilen; bei den Kürzeln "K." der Hauptfiguren im "Prozess" und dem (ursprünglich in Ich-Form begonnenen) "Schloss". Oder bei der Erzählung vom "Jäger Gracchus", die selten genug, an einem benannten, von Kafka besuchten Ort, in Riva am Gardasee spielt. Der amerikanische, aus einer polnisch-jüdischen Familie stammende Romancier Louis Begley weist hier in seiner soeben erschienenen, so kurzweiligen wie mitunter profunden Kafka-Biografie auf ein Detail hin: Auf Tschechisch heißt "kavka" Dohle, darauf verweisen auch andere Biografen. Aber der sonderbare, als Untoter durch die Welt segelnde Klabautermann Gracchus, ausgerechnet er verwandelt sich über "gracchio", nun italienisch, wiederum in das Wort für Dohle, Krähe, Kafka.

Wer will, könnte aus diesem Detail ein Korn vom Ganzen fassen: Kafka, der bei allen Freundschaften, Lieben und immer wieder gelösten Verlöbnissen der ewige Heiratsschwindler und Unglücksträumer blieb, hatte tatsächlich etwas von einem Untoten, der bekannte, dass es für ihn ein wirkliches Leben allein "in der Literatur" gebe: in den Büchern, die mit seiner wunderbaren Formulierung "eine Axt sein (müssen) für das gefrorene Meer in uns".

Aber auch diese Emphatik erklärt noch nicht das Suggestive, nicht das, was Kafkas schmales, dunkel strahlendes Werk gleichsam zu einem universell ansaugenden schwarzen Loch, zum Urknall der poetischen Moderne macht. Noch ein Beispiel, ein Aphorismus - oder gar Kafkas kürzeste Erzählung. Nur der Satz: "Ein Käfig ging einen Vogel suchen." Hier wieder das geflügelte Bild, autobiografisch, existenzphilosophisch, psychoanalytisch deutbar. Und doch werden der Witz und die Grazie und Grausamkeit des aus nichts als Subjekt, Prädikat, Objekt und Verbum bestehenden Satzes mit keiner Interpretation je zu ergründen, ja kaum zu berühren sein. Das Rätsel ist die Lösung.

Das ist Kafka. Nicht, was er bedeutet, aber wie er wurde, was er uns ist (oder scheint), das können wir jetzt im zweiten Band der großen Biografie von Reiner Stach so gründlich und intelligent wie nirgends sonst erfahren, oder mindestens erahnen. Nach seinem ebenso voluminösen ersten Teil, "Die Jahre der Entscheidungen" widmen sich die 730 Seiten von "Kafka - Die Jahre der Erkenntnis" der späten, letzten Lebens- und Schreibphase.

Der erste Band, Kafkas Lehrjahre des poetischen Gefühls (für sein Wollen und Können), gipfelte in der Szene, die Kafka als seinen "Gerichtshof" empfand: Im Juli 1914 trifft er sechs Wochen nach der Verlobung mit der Berlinerin Felice Bauer diese im Hotel Askanischer Hof am Kurfürstendamm. Mit Felice und deren Schwester ist auch die Freundin Grete Bloch gekommen, die etliche von Kafka heimlich an sie geschriebene, verfängliche Briefe an die Braut und Freundin weitergereicht hatte. Felice zieht sie nun aus der Tasche, und Kafka ist erledigt.

Kurz darauf bricht der Erste Weltkrieg aus, und Kafka beginnt seinen Roman "Der Prozess". Sein allererster überlieferter Text hieß zehn Jahre zuvor übrigens "Beschreibung eines Kampfes". Schuld, Kampf, Beschämung, Sehnsucht und Erfüllungsangst, auch eine gewisse Verliererlust durchziehen nun Leben und Werk. Bis zum Tod, der erst Kafkas Auferstehung wird, weil er zu Lebzeiten nur das wenigste veröffentlichen konnte. Sein Freund Max Brod, der gegen Kafkas letzte Verfügung die meisten Manuskripte vorm Verbrennen bewahrte, hat den Schriftsteller Franz K. der Welt gerettet. Doch trotz millionenfacher Deutungen liefert Reiner Stach die überhaupt erste stichhaltige Biografie. Und wo er vorsichtig auslegt, ist auch das überzeugend: etwa beim Hinweis auf Kafkas kompliziertes Lust-Angst-Verhältnis zum Judentum und wie sich in der Erzählung "Schakale und Araber" die von Kafka als Aasfresser dargestellten Juden recht mehrdeutig ausnehmen.

Zu rühmen sind zum Jubiläum auch: Klaus Wagenbachs überarbeitete Neuauflage des illustrierten Klassikers "Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben" und Hartmut Binders fast überakribisches Riesenbuch zu der noch bis zum 3. August im Münchner Literaturhaus zu sehenden Ausstellung "Kafkas Welt". Kafkas Werk ist in den Kritischen Ausgaben des S. Fischer Verlags und in der Faksimile-Edition der Handschriften im Stroemfeld Verlag präsent. Und dank der Alfried- Krupp-von-Bohlen-und-Halbach-Stiftung sind jetzt auch alle 5000 Blätter der in Oxford und Marbach gelagerten Manuskripte fotografisch gesichert. Fast ein Gerücht aber bleibt das Ondit, dass Kafka eigentlich als "Humorist" zu lesen sei.

Bleibt es so lange, bis man nun Ulrich Matthes' spielerisch vitale, in allen Tonfärbungen das Gestische und Komödiantische der Kafka-Sprache aufleben lassende Hörbuch-Fassung des "Schloss"Romans erlebt. Ein Gipfel der zahlreichen Kafka-Rezitationen.

Viele Bücher, Bilder, aber keine Sekunde Film, kein einziger Ton seiner originalen Stimme ist überliefert. Kafka selbst spricht nur im Kopf des Lesers. Uns selber befremdend und so nah wie keiner an den eigenen, oft unbegreiflichen Ängsten, Lüsten, dunklen Freuden. Das gleicht der Erfahrung, mit den Gefühlen zu denken. Wer Kafka nie gelesen hat, stirbt nicht unglücklicher. Aber lebt etwas ärmer.

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