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Zum 70. Geburtstag Volker Brauns: Unheimliche Nachbarschaft

Ach, die Dialektik: Kleiner Hinweis auf das Betriebsgeheimnis eines denkenden Dichters.

Ein „Eurasische Lektion“ überschriebener Zweizeiler von Volker Braun aus dem Jahr 1988 lautet: „Als die Große Mauer stand / Begannen die Völker zu wandern.“ Was will der Dichter uns damit sagen? Man kann das ja auch anders ausdrücken und es sich in schlichte Prosa übersetzen, etwa so, wie es das alte, 1985 in Leipzig erschienene „Universallexikon“ tut: „Die in einer koordinierten Aktion mit der UdSSR und in Abstimmung mit den anderen Staaten des Warschauer Vertrages durchgeführten Sicherungsmaßnahmen vom 13. August 1961 retteten den bedrohten Frieden und schufen günstigere Bedingungen für den sozialistischen Aufbau.“

Verständlicher wird dadurch kaum etwas. Wir haben hier offenbar den schönen Zufall, dass ein Vers die Dinge deutlicher auf den Punkt zu bringen vermag als lexikalisch verbürgte Prosa.

Das liegt zunächst an der Form. Zeile eins, den großen Mauerbau betreffend, stiefelt in der geschlossenen Kampfgruppenformation eines vierhebigen Trochäus heran. Einsilbig, hart und männlich, das heißt mit männlicher Kadenz, endend auf „stand“. Da bewegt sich erst mal gar nichts mehr: Klappe zu – Affe tot. Die nächste Zeile jedoch, ein Daktylus mit Auftakt („Begannen die Völker zu wandern“) unterwandert schon wieder, beinahe leichtfüßig, was die erste Zeile gerade erst als Tatsache betonhart in die Welt gestellt hat. Fast lautmalerisch werden wir hier ins bewegte historische Bild gesetzt.

Zum Vergleich: Das Wechselspiel von Daktylus und Trochäus praktizierte meisterlich bereits Friedrich Schiller – und zwar in „Die Würde der Frauen“. Wir erinnern uns: Dem daktylischen: „Ehret die Frauen! Sie flechten und weben / Himmlische Rosen ins irdische Leben“ wird kontrastierend die trochäisch-trommelnde Männerwelt entgegengestellt: „Ewig an der Wahrheit Schranken / Schweift des Mannes wilde Kraft“. Schön und gut, nur ist es auch wahr, was Braun uns hier im klassischen Versmaß als Lektion erteilt? Oder freihändig mit Schiller gefragt: Schweift Volker Brauns wilde Kraft nur ewig an der Wahrheit Schranken, ohne je dahinterzukommen?

Unweigerlich kommen wir zum Inhalt. Die paradoxe Ausgangslage des Gedichts lenkt die Aufmerksamkeit auf jene Teile der Wirklichkeit, die dem ersten, arglosen Blick notwendig verborgen bleiben müssen. Tatsächlich, „als die Große Mauer stand“, begab sich das Volk auf eine lange Wanderschaft. In Ermangelung preisgünstiger Pauschalreisealternativen begann eine Völkerwanderung durchs eigene Land – in ganz unterschiedlicher Gangart. Im Trappelschritt der Kindergärten, im Gleichschritt der NVA. Oder es ging, in den Betrieben, seinen sozialistischen Gang: „Eh, Mann, lass’et ruhig angehen, privat geht vor Staat.“

Immer aber ging es „Vorwärts zu neuen Erfolgen!“. In den Mauern des Labyrinths herrschte eine staunenswerte Vielfalt an Fortbewegungsmöglichkeiten. Auf der Suche nach einem Leben, das es anderswo und anderswie geben musste, gingen allerdings viele verloren. Es gab Flucht und Ausreise – äußere wie innere. Manche verschwanden später auch in den sogenannten Nischen der Gesellschaft.

„Die DDR ist das Land, darin ich leben will, aber muss“, beschrieb in trotziger Selbstbehauptung Richard Leising die prekäre Lage der Insassen. Keine Chance aber, dort je anzukommen, wenn man nie weggehen konnte. Das Eigene wurde einem fremd. Für den von seiner Natur her zur Schizophrenie, also dem Spaltungsirresein neigenden Dichter ist das eine solide Arbeitsgrundlage! Wer von uns träumte nicht davon, „Ich“ zu sagen – und ein ganz anderer zu sein. Für die meisten von uns aber war dieser Zustand ein ernsthafter Grund, unglücklich zu sein.

Nebenbemerkung, aber wir sind beim Thema: „Die Mauer“, so heißt ein frühes Gedicht Volker Brauns aus den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Vor einiger Zeit wurde uns diese dialektische Erwägung über Nutzen und Schaden der Mauer in Erinnerung gerufen, indem daraus zitiert wurde, als handle es sich um einen Leitartikel aus dem „Neuen Deutschland“.

Ich will nicht so töricht sein und Zitate durch Gegenzitate (wieder aus diesem Gedicht) zu entkräften versuchen. Vielmehr würde ich dringend das Gedicht in seiner Gänze zur Lektüre empfehlen. Dies nämlich verhülfe uns zu einem Einblick in das eigentliche Betriebsgeheimnis Braun’scher Lyrik.

Nach Inhalt und Form geraten wir abschließend also zur Dialektik, deren äußeres Erscheinungsbild eben jenes Paradoxon war, das sich im obigen Zweizeiler beobachten lässt.

Im Unterschied zu Volker Braun waren sich Volk und Partei in einem Punkt stets weitgehend einig: Dialektik – ist Quatsch mit Soße! Gut, die Partei sagte es vielleicht ein wenig anders. Aber Dialektik im Sinn von Widerspruch, von Entwicklung, das war ihre Sache nun wirklich nicht. Es wurde damit ja auch dauernd hantiert wie mit Nebelgranaten von gefährlichem Kaliber: „Das musst du dialektisch sehen …“ Da zog man besser den Kopf ein und ging in Deckung.

Dass einem, kraft Dialektik, Hören und Sehen auch entstehen konnte und kann, das bewies und beweist Braun, der Vertreter der reinen Lehre, der Ketzer. Als die Große Mauer fiel – und vieles andere noch –, klaubte Braun das kostbare, noch wenig benutzte Instrumentarium der Dialektik aus dem real existierenden Trümmerhaufen.

Kann man heute überhaupt noch was damit anfangen? Ich denke, solange der Geld- und anderer Regen unverdrossen von unten nach oben fällt oder eins plus eins, wie wir es gerade staunend erleben, alles andere als zwei ergibt und nichts so ist, wie es ist, solange haben wir die dialektische Unterweisung ebenso nötig wie Volker Brauns luzide Lyrik.

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