zum Hauptinhalt
Sandra Richter, neue Leiterin des Marbacher Literaturarchivs.

© dpa/Fabian Sommer

Literaturarchiv Marbach: Die Zeichen stehen auf Neubeginn

Die erste Frau und die erste Literaturwissenschaftlerin: Sandra Richter tritt ihr Amt als Leiterin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach an.

Amtswechsel oder Inthronisation? So fragte Peter-André Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz und der Deutschen Schillergesellschaft, als am Donnerstagabend auf der Marbacher Schillerhöhe ein Neuanfang feierlich begangen wurde. Bekommt das Deutsche Literaturarchiv eine neue Machthaberin? Oder tritt eine neue Direktorin ihr bürgerliches Amt an? Ein bisschen von beidem, so Alt, die feudale und die liberale Tradition des Ortes abwägend: Sandra Richter sei nicht nur die erste Frau in dieser Position, sondern auch die erste Literaturwissenschaftlerin.

Das 1955 gegründete Archiv über dem Neckar bewahrt mehr als 1000 Vor- und Nachlässe: Hesse und Heidegger, Hofmannsthal und Handke. Wie es in Marbach weitergehen wird? Mit Optimismus in die globale Zukunft, so las es Alt aus Richters Publikationen. Ein engagiertes Archiv wünschte sich das zuständige baden-württembergische Ministerium. Die digitalen Herausforderungen müssten angenommen, neue Zielgruppen müssten erschlossen werden, hieß es vonseiten des Bundes. Das Archiv dürfe kein Tempel für Eingeweihte bleiben.

Goethe auf Twitter, die Räuber als Computerspiel

Die neue Direktorin antwortete mit einem Zauberwort, einem Fragebogen und einem unerwarteten Tempuswechsel. Heute würde Goethe seine Italienische Reise twittern, Schillers Räuber wären ein Computerspiel. Romantisierenden Vorstellungen erteilte Richter eine Absage: Das Archiv sei keine Pilgerstätte der Entschleunigung. Nah an den Gästen war auch der kurze Fragebogen, der auf allen Sitzen lag – mit der Bitte, ihn ausgefüllt einzureichen. Der Anfang eines neuen, empirischen Projekts: „Uns interessiert, wie Sie lesen!“ Die Kernformel der Aufklärung schließlich setzte Richter in einen ungewöhnlichen Plural: „Urteilskräfte“. Öffnung und Öffentlichkeit: Das ist das Programm.

Das Archiv aus der verstaubten Provinz in die Presse gebracht zu haben, gilt als Erfolg ihres Vorgängers Ulrich Raulff. Zugleich regierte er im Geist des George-Kreises und ließ das alte Preußen publizistisch aufleben. Für Richter, die als öffentliche Intellektuelle gewürdigt wurde, soll Marbach ein Ort der vielen und der Debatten sein, kein Ort des weihevollen Geheimnisses, auch kein Ort der Vermarktung der „Urteilskräfte“. Sie berief sich auf den Namenspatron des Ortes, auf Schillers „ästhetische Erziehung“. Die Zeichen stehen auf Neubeginn: liberal und, wie Peter-André Alt bemerkte, ein bisschen feudal.

Hendrikje Schauer

Zur Startseite