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Kultur: Literaturexpress: Als gelte es, der Wahrheit auf den Grund zu gehen - Ein Tagebuch (III)

Ist es Montag, ist es Vilnius. Die Fahrt quer durch den Kaliningrader Oblast liegt hinter uns.

Ist es Montag, ist es Vilnius. Die Fahrt quer durch den Kaliningrader Oblast liegt hinter uns. Hoher, bunter Himmel. Sattgrüne Bäume und Wasser. Bochowski? Vielleicht. Die Grenzstation: Nimmersatt, wie sie früher mal hieß. Jetzt, irgendwie postsowjetisch. Kaliningrad ist eine Trümmerstadt für die Ewigkeit. Sich darin Königsberg vorzustellen, bedarf schon der Vertriebenen-Imagination. Senioren reisen hier durchs Niemandsland und sehen unter dem Wasserspiegel ihre alte Welt. Wir aber leben zwei Tage wie in einer Kino-Parodie auf die Stalinzeit, zwischen Folklore und Militärmusik, die englisch sprechenden Töchter der Militärs lotsen uns durch die Trümmerlandschaft.

Was erfährt man in anderthalb Tagen?

Aber es ist bereits Montag, das Balalaika-Orchester schlägt nochmals zu, und dann sind wir endlich im freien Baltikum. In Vilnius erwartet uns in der leeren Bahnhofshalle, die gerade neu gestaltet wird, eine Performance aus Jazz-Avantgarde und Lyrik-Simultan-Lesung in mehreren Sprachen. Schon fast verzweifelt wird hier Europa beschworen, oder das, was man für Europa hält. An der Grenze haben wir die Uhren auf die mitteleuropäische Zeit zurückstellen können. In den baltischen Ländern ist alles symbolisch, selbst die Uhrzeit. Es ist, als wollten diese Völker sagen: Wir wenden uns von allem Sowjetischen ab und Europa wieder zu. Wäre es doch nur so einfach!

Dienstag. Das Hotel in Vilnius, ein endloser Turmbau, stammt aus den Sowjetzeiten. Auch der Hotelfernseher. Fünf Programme, Schnee. Seit Marienburg/Malbork ist Schluss mit den Nachrichten aus Europa. Wir reisen und reisen durch Europa, wie es heißt, und ich weiß immer weniger von dem, was in der Welt geschieht. Der Literaturexpress ist in einem Tunnel. Statt Euro-News eine Stadtrundfahrt in Vilnius. Kirchen und wieder Kirchen. Die Legende vom Stadtgründer. Bedeutungen über Bedeutungen. Man braucht nur den Bus zu verlassen, und schon betritt man den majestätischen Boden der Geschichte. Und wo die eigene nicht ausreicht, werden noch ein paar Promis von den Nachbarvölkern eingemeindet. Nicht nur Jagiello und Mickiewicz stammen von hier, sondern auch die Mutter des Papstes.

Im Vorbeifahren der Gettoplan an einer Hauswand. Die Nazis und ihre eifrigen litauischen Helfer haben Hunderttausende Juden ermordet. Von diesen litauischen Helfern ist allerdings keine Rede. Vor dem Parlamentsgebäude steht ein symbolischer Rest der Barrikade von 1991, als sowjetische Militärs die Unabhängigkeit des Landes verhindern wollten.

Donnerstag. Riga, die Metropole des Baltikums. Die Altstadt erstrahlt im neuen Glanz. Deutsches Mittelalter und schwedische Herrschaft. Empfang im SchwarzhäupterHaus, ein Gildenhaus des Mittelalters. Im

Zweiten Weltkrieg völlig zerstört, in den neunziger Jahren, nach den alten Plänen, wieder aufgebaut, Riga baut sich sein Mittelalter neu auf. Dahinter, an der Fluss-Seite, liegt in einem Flachbau der sowjetischen siebziger Jahre das Okkupations-Museum.

Was aber kann man in anderthalb Tagen über eine Stadt erfahren, oder gar über eine Literatur? Wir leben seit Wochen ein Leben der ersten Eindrücke. Es ist nicht anders als bei Politikern. Die haben auch nur erste Eindrücke und treffen Entscheidungen fürs ganze Leben der anderen. Ein lettischer Kollege führt uns durch den Park, an Gedenksteine für jene beiden Kameraleute, die 1991 Opfer russischer Sondereinheiten wurden. Es ist später Abend, Kinderscharen kommen von einem Fest auf der Brücke herbei. Es ist Sommer, und sonst gar nichts.

Am Sonntag überschreiten wir die Alphabet-Grenze von neuem. Zwischen dem estnischen Tallinn und dem russischen Sankt Petersburg ist es eine kurze Strecke, aber ein weiter Weg. Ab nun und für eine ganze Woche herrscht das Kyrillische. Auch die Uhr wird zwei Stunden vorgerückt. Wir betreten einen anderen Raum.

Das Hotel heißt Oktjabrskaja, aber vom roten Oktober ist nicht viel übrig. Es ist ein finsterer Ort, labyrinthisch und verkommen. An den Flurenden, wie eh und je, die Etagenfrauen mit der Schlüsselhoheit. Sie wissen, wie früher, alles, jetzt haben sie sogar Computer. Nachts ruft nicht der KGB an sondern der Sex-Service: Wollen Sie ein sympathisches russisches Mädchen kennen lernen?

St. Petersburg, eine eingetretene Tür

Ich laufe den Newski-Prospekt hoch und zurück. Alles ist staubig und nepp, aber auch künstlich wie zu Peters Zeiten. Die Dichter der Stadt haben ein russisch-englisches Booklet zusammengestellt, in dem sie sich mit Texten und Statements präsentrieren. Die Statements sind meist bemühte Neo-Avantgarde, als wollte man dem Westen etwas beweisen. Der Ort der Lesung ist dem Ganzen angemessen. Es ist der siebente Stock in einem abbruchreifen Hochhaus ohne Fahrstuhl. Wie Kreuzberg in den Achtzigern. Alternativ, aber im Verhältnis zu was?

Wer die Pracht sehen will, fährt nach Zarskoje Selo, wo sich Menschenmassen durch restaurierte Blattgoldräume zwängen, als gelte es, der Wahrheit auf den Grund zu kommen. Sankt Petersburg ist eine eingetretene Tür, hinter der sich zahllose Puschkin-Statuen befinden. Alle wollen einem Puschkin zeigen. Warum nicht Dostojewski?

Richard Wagner

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