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Stoiker und Menschenfreund. Der 73-jährige Literaturnobelpreisträger J.M. Coetzee in Berlin.

© Hartwig Klappert/Literaturfestival

Literaturfestival Berlin: Willkommen in Novilla

Wundervoll und wunderlich: Der südafrikanische Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee stellt beim Berliner Literaturfestival seinen Roman „Die Kindheit Jesu“ vor.

Von Gregor Dotzauer

Hinterher hätten sich alle die Augen reiben und den Kopf zerbrechen können, was das nun eigentlich war. Eine grundnüchterne Lesung mit Wasserglas. Eine philosophische Séance, getragen von einem wunderbar artikulierten Englisch, das sich irgendwo zwischen Oxford und Kapstadt seine eigenen emphatisch singenden Langsamkeitston gesucht hat. Oder eine Märchenstunde in einem Kinderton voller heiligem Ernst, in dem eine untergründige Ironie mitfunkelt. Was auch immer es aber war: J. M. Coetzees Bann tat seine Wirkung, und niemand ließ sich davon verwirren, dass die tiefe Ereignislosigkeit des Abends nur mit seiner tiefen Ereignishaftigkeit konkurrierte.

Die meisten stehen noch über eine Stunde nach der Veranstaltung im Haus der Berliner Festspiele Schlange und lassen sich von einem stoisch freundlichen Autor „The Childhood of Jesus“ (Harvill Decker) signieren, den Roman, aus dem er gerade vorgetragen hat und der Ende Oktober bei S. Fischer auf Deutsch erscheint. Manche haben ganze Stapel seiner früheren Bücher bei sich. Aber auf jeden Geschäftemacher, der aus der Unterschrift des südafrikanischen Literaturnobelpreisträgers Kapital zu schlagen hofft, kommen mindestens zwei, die seit Jahren mit seinen Romanen leben und jedes Mal von Neuem darüber staunen, wohin ihn seine feste Formen und Formeln scheuende Neugier wieder treibt. Das einzige eherne Gesetz, das er befolgt, betrifft seine Auftritte: Keine Gespräche im Anschluss. Was soll er erklären, was der geduldige Leser nicht selbst herausfinden könnte?

„Die Kindheit Jesu“ ist, der überwiegenden Verwirrung englischsprachiger Kritiker nach zu urteilen, der befremdlichste Roman, den Coetzee seit langem geschrieben hat. Er ist es aber nur, wenn man sich von der prononcierten Schlichtheit seines Tons dazu verleiten lässt, ihn als realistischen Entwurf einer Welt zu lesen, die weder zur Utopie noch zur Dystopie so richtig taugt. Mit seinem freudlosen, jede Form von Genuss in Keuschheit erstickenden Sozialismus kommt einem Coetzees namenlos fürsorgliches Fantasiereich tatsächlich erst einmal mehr als spanisch vor – und das liegt nicht an der Landessprache. Bildung, auch für Erwachsene, gibt es hier zwar gratis, doch Essen dient nur dem Überleben, und sexuelle Bedürfnisse haben offenbar nur Männer. Nach umständlicher Voranmeldung kümmern sich Therapeutinnen in öffentlichen Einrichtungen um erleichterungsbedürftige Kandidaten.

Auch sonst geht es mit seltsamen Dingen zu. Bei der Einreise verliert jeder die Erinnerung an seine Vergangenheit und bekommt einen neuen Namen zugewiesen. So wird aus dem Mann, der nach langer Seereise im Lager Belstar eintrifft, bevor er seinen Lebensunterhalt im Schweiße seines Angesichts damit verdient, im Hafen von Novilla ohne jede technische Hilfe Schiffe zu entladen, Simón, und aus dem Fünfjährigen in seiner Obhut David. Und es kommt noch merkwürdiger: Denn Simón, der immer wieder erklären muss, nicht Davids Vater zu sein, macht sich auf die Suche nach der Mutter des Jungen. Als er sie in Gestalt von Inés findet, hält er eisern daran fest, dass sie seine einzige Mutter sei, obwohl sie David nicht geboren hat.

Es ist nicht der Schlüssel zu allen Rätseln, Novilla als einen Nicht-Ort zu betrachten, der für die Fiktionalität von Romanen – novels – schlechthin steht. Aber mit der Voraussetzung, dass Simón und David ein Land betreten, in dem sie tatsächlich keine leibliche Vorgeschichte außerhalb des Textes haben, kommt man der zunächst kaum merklichen Selbstbezüglichkeit dieses Buches sehr nahe.

Jeder Autor verordnet seinen Figuren einen bestimmten Namen, ein bestimmtes Alter und eine bestimmte Physis. Mit einer gewissen Willkür herrscht er über die Beziehungen, die sie miteinander unterhalten – und er mutet ihnen zu, sich klaglos in ihrer Welt zurechtzufinden. Falls in ihnen noch ein Rest Erinnerung an frühere Leben wohnt, dann, weil auch die Literatur keine creatio ex nihilo kennt, sondern nur Fortschreibungen und Überschreibungen.

Der Geniestreich, den Coetzee mit „Die Kindheit Jesu“ vollbringt, liegt darin, dass er seine Figuren nicht nur in seiner metafiktionalen Spielkiste zappeln und aufbegehren lässt. Ihre Fragen nach der Wirklichkeit sind Fragen nach der Wirklichkeit überhaupt: nach der besten aller möglichen Welten, die für sie zugleich die einzige ist, nach deren inneren Konsistenz und nach der sprachlichen Verfasstheit von Erkenntnismöglichkeiten. Coetzee hat nie einfach fiktive Welten geschaffen, er hat immer andere aufgegriffen und durch sie hindurch zu verstehen versucht, was erst über Jahre seine südafrikanische Wirklichkeit war und heute, in Adelaide, seine australische – wenn nicht jeder Ort, an dem man aus dem Fenster schaut, eine eingeschränkte Perspektive bieten würde. In seinem frühen Meisterwerk „Warten auf die Barbaren“ (1980) bezog sich Coetzee auf Dino Buzzatis „Tatarenwüste“, in „Leben und Zeit des Michael K.“ (1983) auf Kleists „Kohlhaas“ oder in „Mr. Cruso, Mrs. Barton und Mr. Foe“ (1986) auf Daniel Defoes „Robinson Crusoe“.

{Eine Verbeugung vor dem "Don Quixote"}

„Die Kindheit Jesu“ ist ein Roman über den europäischen Urroman, den „Don Quixote“. Dessen Verfasser, Miguel de Cervantes, taucht allerdings nur unter dem Namen seiner eigenen Autorfiktion auf, Benengeli, und der kanonische Text wird nur aus einer illustrierten Kinderausgabe zitiert. Das bleibt nicht ohne Folgen. Knapp über dem Nullpunkt der Literatur stattet Coetzee seinen Roman zunächst nur mit dem Allernötigsten aus: der Ankunft undefinierter Figuren in einer fremden Welt, einem Leben mit Wasser und Brot, der Suche nach einem festen Dach über den Kopf, um sich dann, Kapitel für Kapitel, beim Verfertigen einer Geschichte zuzusehen.

„Die Kindheit Jesu“ ist zugleich ein mit gespielter Naivität auf die elementarsten philosophischen Fragen heruntergehungerter Ideenroman, ein Stück zeitgenössischer Grundlagenforschung zu Schein und Sein, die aufnimmt, was Cervantes vor 400 Jahren schon einmal unendlich üppiger instrumentierte.

Coetzee hat ein diebisches Vergnügen daran, mit Hilfe des kleinen David ein philosophisches ABC aufzublättern und es mit Simóns haareraufender Hilflosigkeit zu konfrontieren. Von Grund auf buchstabiert er sich in absurd anmutenden Dialogen noch einmal durch die Problemklassiker des abendländischen Denkens: von Platons Ideenlehre, die hier ausgerechnet an einer verstopften Toilette exemplifiziert wird, über Leibniz’ Überlegungen zur Theodizee bis zu Kants Ding an sich.

Was sind natürliche Bedürfnisse? Warum ist Inzest verboten? Was sind Zahlen? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Keine Frage ist vor David sicher, und vielleicht ist es eine bittere Wahrheit, dass es nur auf einen Teil zuverlässige Antworten gibt – und selbst wo dies der Fall ist, findet sich garantiert jemand, der ihnen ohne Rücksicht auf Verstand und Vernunft widerspricht.

Ein stillschweigendes Untersuchungsfeld sind aber auch die Fantastereien religiöser Grundschriften wie der Bibel, die im Namen eines schlüssigen Glaubens Jungfrauengeburten, heilige Familien und künftige Erlöser in einen narrativen Zusammenhang pressen. In Novillas Logik ist es nur legitim, Inés als Davids wahre Mutter zu bestimmen. Und ist er nicht so etwas wie ein kleiner Messias? Wahrscheinlich verfügt er nur über einen störrischen, mit wilden Eingebungen gesegneten Geist. Doch in genau diesem Sinn ist David ein kindlicher Jesus: ein aufgeweckter Spinner, der womöglich eines Tages Jünger um sich sammelt, einstweilen aber nichts ist als ein selbsternannter Zauberer, der sich Abracadabra rufend unsichtbar zu machen glaubt, und schließlich als so aufsässig gilt, dass er in eine Besserungsanstalt nach Punto Arenas verschickt wird.

Man sollte es mit den Parallelen zum Neuen Testament oder den Apokryphen indes nicht zu weit treiben. „Die Kindheit Jesu“ als Kontrafaktur zu lesen, wie es Marie-Luise Knott in ihrer Einführung im Festspielhaus empfahl, überfordert den Text heillos und nimmt ihm zugleich etwas von seiner Eigenständigkeit. Die Bibel oder der „Don Quixote“ stellen hier nur ein im kollektiven Gedächtnis verankertes Vokabular zur Verfügung, mit dem sich über Wirklichkeit, Endlichkeit und Ewigkeit produktiv nachdenken lässt.

Wenn die Literatur, die J.M. Coetzee schreibt, so einfach in ihre Bestandteile zu zerlegen wäre, müsste man ihm vorhalten, dass er sich nur ziert, darüber Auskunft zu geben. Er dürfte aber mehr als jeder seiner Leser verstanden haben, dass man künstlerische Werke mit einem Höchstmaß an bewusster Kontrolle, Korrektur und Überarbeitung herstellen kann und am Ende doch etwas erhält, das aus sich für andere und, in gewissen Grenzen, doch für jeden anders lebt.

So sitzt er am Ende keineswegs sphinxhaft am Signiertisch, sondern als für seine 73 Jahre blendend aussehender und zu Blitzgesprächen jederzeit aufgelegter Herr. Mehrhundertfach rutscht „Die Kindheit Jesu“ unter seinen Händen hindurch. Es wird nicht einmal wirklich dasselbe Buch gewesen sein.

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