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Sommerfrischler in Zwangsgemeinschaft. Der Film zeigt Max Brod (links) und Franz Kafka auch in dieser schlechten Montage. Wo jetzt Brods schief aufgesetzter Kopf zu erkennen ist, sieht man im Original den Schriftsteller Ernst Weiß. Klaus Wagenbachs Kafka-Bildarchiv gibt als Aufnahmeort Travemünde oder Marielyst an. Foto: SWR/Sagi Bornstein

© SWR/Sagi Bornstein

Literaturgeschichte: Zerrissenes Erbe

Zwischen Tel Aviv und Marbach: Was wird aus den Nachlässen von Max Brod und Franz Kafka? Eine Fernsehdokumentation des Israelis Sagi Bornsteins gibt fahrlässige Antworten.

Wo Max Brod drin ist, steht Franz Kafka drauf. Auf diese Formel lässt sich der Streit um den vermeintlichen Kafka- Nachlass bringen, der in diesen Tagen in einem Urteil des israelischen Familiengerichts kulminierte. Denn all die noch unbekannten Kafka-Manuskripte, von denen seit Jahren raunenderweise die Rede ist – es gibt sie gar nicht. Aber am Geheimnis wird gearbeitet.

Am kühnsten geht dabei der Film „Der letzte Prozess“ des israelischen Regisseurs Sagi Bornstein vor, der kommenden Mittwoch um 22.05 Uhr auf Arte zu sehen ist. Er will ein Dokumentarstück sein, bietet aber viel Fabelei. Der „Kafka-Safe“ treibt die Spekulation an.

In Wahrheit geht es um den Nachlass Max Brods, der tatsächlich mehrere Kubikmeter Papier umfasst und in Tel Aviv in einer Wohnung voller Katzen und Chaos lagert. Brod war bekanntlich der beste Freund und Förderer Kafkas, der ihm einige Handschriften vererbte. Enthalten in Brods riesigem Nachlass – er umfasst allein über 20 000 Briefe – ist also ein kleiner, gut überschaubarer Teil des Kafka-Nachlasses, der sich ausgelagert in Tresoren in Tel Aviv und Zürich befindet.

Brod hat das alles noch zu Lebzeiten mittels einer Schenkung seiner Mitarbeiterin Ester Hoffe vermacht, einer treuen Seele, die ihm in späteren Jahren nicht mehr von der Seite wich. Nach deren Tod im Jahr 2007 befindet sich der Brod-Nachlass in Händen der katzennärrischen Tochter Eva Hoffe – die Israelische Nationalbibliothek hat 2009 gegen sie den Prozess angestrengt, dessen Ergebnis in erster Instanz nun auf die Enteignung der als literarisch verantwortungslos verrufenen Frau hinausläuft. Niemand weiß, ob sie den Nachlass, wie sie einmal bekundete, ans Marbacher Archiv verkaufen will, an eine israelische Institution, auf dem freien Markt – oder ihn gar in der Wohnung verkommen lässt. Doch die Revision läuft schon, und alles spricht dafür, dass sie diesmal gewinnen wird.

Bornsteins Film holt israelische Kafka-Expertinnen vor die Kamera, die nie etwas zu Kafka publiziert haben. Ihre vehementen Meinungen stehen gleichwertig neben den abgewogenen Äußerungen des Kafka-Biografen Reiner Stach, der seine Mitwirkung heute stark bedauert. Andere Kafka-Forscher hätten klugerweise abgesagt. „Ich auch“, krähte der kundige Klaus Wagenbach bei der Preview im Berliner Literaturhaus.

Der Film verfolgt eine reißerische Dramaturgie von Kafkas letztem Willen bis zum jüngsten Prozess. Zwischen authentischen Bildern und Spielszenen ist kaum zu unterscheiden, mal wird versteckt im Gerichtssaal von Tel Aviv gefilmt, dann wieder geht es mit der Wackelkamera an Archivkästen vorbei, in den künstlich verdunkelten Stollen von Marbach. Statt geprüften Fakten werden Suggestionen geboten: Nach der Erwähnung von Kafkas Auftrag an Max Brod, seine Manuskripte zu vernichten, erfolgt ein plumper Schnitt zur nationalsozialistischen Bücherverbrennung zehn Jahre später – als wäre Goebbels der Vollstrecker von Kafkas letztem Willen gewesen.

Kopfschüttelnd korrigierte Reiner Stach im Anschluss an die Preview die zahlreichen Fehler des Films. Nichts mehr von Geheimnis: Sowohl die Inhalte der Safes wie der Hoffe-Wohnung wurden längst akribisch inventarisiert und die Kafka-Manuskripte für die Kritische Ausgabe kopiert. Der Film verschweige auch, dass fast 90 Prozent des handschriftlichen Kafka-Nachlasses von den überlebenden Nichten Kafkas der Bibliothek von Oxford vermacht wurden. Sie stehen der Forschung ebenso zur Verfügung wie das „Proceß“-Manuskript, das Marbach 1988 zum Rekordpreis von über drei Millionen Mark ersteigerte.

Brod hatte in seinem Testament bestimmt, Ester Hoffe solle dafür sorgen, dass sein Nachlass nach ihrem Tod „der Universität Jerusalem oder der Stadtbücherei Tel Aviv oder einem anderen öffentlichen Archiv im Inland oder Ausland“ zur Verfügung gestellt werde. Diese Aufzählung, so Stach, habe das Gericht nun als Hierarchie der Wünsche gedeutet. Dabei kann kein Zweifel daran bestehen, dass Brod das Marbacher Archiv schätzte und es als Wirk- und Erforschungsstätte seines eigenen deutschsprachigen Werks, das bereits in publizierter Form 80 Bände umfasst, der Stadtbücherei von Tel Aviv bei Weitem vorzog.

Die bisher unbekannten Tagebücher Brods sind es, auf die Forscher wie Stach vor allem gespannt sind. Hier werden die frühen Freundschaftsjahre mit Kafka dokumentiert wie in wohl keiner anderen Quelle. Kaum weniger interessant dürften Brods Briefwechsel mit vielen bedeutenden Autoren, Künstlern und Komponisten Europas sein. Er war nicht nur ein wirkungsmächtiger PR-Mann in Sachen Kafka, sondern überhaupt ein überragender Netzwerker.

Es ist beklemmend, wenn sich mittlerweile Fragen ebenso fundamentaler wie fataler Art an die Nachlass-Debatte heften: Wem gehört Kafka? Obwohl es in Israel, so Stach, bisher nicht einmal eine Kafka-Straße gebe, werde der Autor als Kulturerbe reklamiert. Der Prozess wird als neuerliche Rettung Kafkas vor den Deutschen stilisiert, nachdem Brod die Manuskripte 1939 bei seiner Flucht aus Prag vor den Nazis in Sicherheit gebracht hatte. Kafkas Verhältnis zum Judentum war jedoch ambivalent, und seine gelegentlichen Fantasien, nach Palästina auszuwandern, hatten nichts mit sattelfestem Zionismus zu tun. Für den Leiter der Israelischen Nationalbibliothek, Haggai Ben Schammai, ist die Sache jedoch unzweifelhaft: „Kafka hatte die Absicht, ins Land Israel einzuwandern“ – so kommentierte er vergangene Woche den Prozessausgang. Passend dazu zeigt der Film in thrillerhafter Großaufnahme, wie der Jerusalemer Bibliothekar sich weiße Handschuhe überzieht, bevor er Kafkas hebräisches Vokabelheft wie ein Heiligtum aufschlägt – bisher die einzige Kafka-Handschrift der Nationalbibliothek.

Eine weitere kuriose Szene zeigt den Antiquar Heribert Tenschert. Angeblich hadert er heute damit, dass er das „Proceß“-Manuskript nach einigen wunderbaren Wochen 1988 auf „Druck“ Marbachs an das Archiv weiterverkaufte, ohne eine Mark draufzuschlagen. In Wahrheit hatte er das Manuskript bereits im Auftrag Marbachs ersteigert. Der Film lässt diese eitle Legende unkommentiert stehen.

„Ist ja eh wurscht“, könnte man sagen, wie jener Kustode der kleinen Ausstellung in Kafkas Sterbehaus bei Wien. Auf das Kürzel „mos.“ in der Sterbeurkunde hingewiesen, grübelt er vor laufender Kamera, ob Kafka wohl Moslem gewesen sei. Die Religionszugehörigkeit „mosaisch“ ist ihm nicht geläufig. „Ist ja eh wurscht“ – dieser Satz kennzeichnet die Machart der Pseudo-Dokumentation. Wer es mit Franz Kafka und Max Brod genau nimmt, muss sie ärgerlich finden.

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