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Literaturkolumne Flugschriften: Federn lesen!

Der 2007 verstorbene Wiener Psychoanalytiker Ernst Federn war einer der couragiertesten Gewaltforscher. Jetzt sind seine zentralen Texte neu aufgelegt worden.

Von Caroline Fetscher

Alles dreht sich um den rollenden Ball. Während der Fußballweltmeisterschaft hallen die Rufe der Zuschauer in den Straßen wider, die erschreckenden Nachrichten dieser Tage geraten in den Hintergrund. Auf dem Spielfeld tobt ein zivilisatorisch gezähmter Kampf, ein Wettbewerb männlicher Elitesportler um Pokale. Da gibt es zwar emotionalisierte Massen, aber keine Toten. Zu gleicher Zeit tobt in den Städten des Irak ein blutiger Krieg zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. Im Schatten der Spiele scheint die salafistische Terrororganisation ISIL (Gruppe Islamischer Staat im Irak und der Levante), von der sich sogar Al Qaida distanziert, brachial ihre antisemitische Ideologie durchsetzen zu wollen. Auch Nachrichten und Bilder aus Syrien, Libyen oder der Ukraine bleiben beunruhigend.

„Ich kann anderen durch Gewalt und Manipulation meine Vorstellungen aufzwingen“, das ist eine im Kern irrationale, infantil-magische Denkbewegung. Sie ist zugleich Ergebnis eines pathogenen Lernprozesses: „Ich habe gelernt, dass man sich mit den Methoden durchsetzt.“ Was entflammt Gewalt, was dämmt sie ein? Diese Frage stellt sich dem demokratischen, zivilisierten Denken, seit Gewalt, staatliche wie private, zunehmend zum Skandalon wird.

Einer der couragiertesten Gewaltforscher war der Wiener Psychoanalytiker Ernst Federn (1914–2007), dessen zentrale Texte eben neu aufgelegt worden sind. Seine „Versuche zur Psychologie des nationalsozialistischen Terrors“ (Psychosozial Verlag, Gießen) versammelt ein von Roland Kaufhold exzellent edierter Band, der Aufsätze des Überlebenden von Dachau und Buchenwald aus dem Zeitraum von 1946 bis 1996 enthält, sowie neue Essays zu Federn.

Von 1938 bis 1945 war er als Antifaschist und Jude in Lagerhaft

„Ich habe so lange so intensiv unter Gewalt gelebt“, erklärte er, „dass ich ohne ungebührlichen Narzissmus behaupten kann, dass ich etwas von ihr verstehe.“ Von 1938 bis 1945 war er als Antifaschist und Jude in Lagerhaft. Am Leben erhalten hatte ihn das Urvertrauen aus einer Kindheit, in der er gut behandelt wurde, der Optimismus, mit dem er sich sagte: „Sobald ich herauskomme, schreibe ich“, und das staunenswerte Fehlen von Hass, Bitterkeit und Ressentiment. Hass sei das Gegenteil von Liebe, teilte er mit, beides empfinde er für seine Gegner nicht.

Aber Federn, dessen „konstruktive, kreative Grundhaltung“ nicht nur der Herausgeber bewundert, wollte ergründen, wie die Erosion des Gewissens, das Zerschlagen von Über-Ich-Funktionen zustande kam, die Terror, Gewalt und Lagersystem überhaupt möglich machten. Das Lager sah er, wie der Herausgeber anmerkt, als einen psychotischen Mikrokosmos des totalitären „Reiches“ – und damit der Psyche derer, die es erdachten.

Es ging Ernst Federn im Sinne von Adornos Studien zum autoritären Charakter darum, zu erkunden, wie man Menschen so zur Mündigkeit erzieht, „dass sie nicht zu potentiellen Massenmördern werden.“ Wird die Psyche früh kolonisiert, brutalisiert und korrumpiert, vor allem durch Gewalt und Gehorsamserpressung, ist die Prognose ungünstig. Wer in der Angst groß wird, wegen Ungehorsams vom Vater vernichtet, symbolisch kastriert zu werden, wie Federn das in seiner 1960 in New York veröffentlichten Studie zum Lagerkommandanten Rudolf Höß erkennt, der kann für den Gehorsam, erst recht in Extremsituationen, alles opfern, auch das Gewissen.

Was der brutalisierende „Vater“, und in dessen Nachfolge ein „Führer“, eine pervertierte Version von „Gott“ oder „Allah“ fordert, wird „erledigt“. Federn erarbeitet die Ursachen der fatalen Dynamik von Tortur, Gewalt, Zwangsarbeit, Hunger, Angst, Schmerzabwehr, Kontrollverlust, Rache und Verrat, die das Lagersystem ausmachten, und die psychischen Methoden des Terrors, zu denen das Wecken und Enttäuschen von Hoffnung zählen, vor allem aber das Erzeugen von Angst. Wo immer derzeit Terror wütet, lassen sich Federns Erkenntnisse analytisch anwenden.

Caroline Fetscher schreibt an dieser Stelle regelmäßig über Menschen und Merkwürdigkeiten. Nächste Woche: Gerrit Bartels über den Literaturbetrieb.

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