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Cooler Kosmopolit. Barrie Kosky wurde 1967 als Enkel jüdisch-russischer, jüdisch-polnischer und jüdisch-ungarischer Einwanderer im australischen Melbourne geboren.

© D. Spiekermann-Klaas

Lobrede auf Barrie Kosky: Ein Spaßmacher, dem es ernst ist

Wie es dem Regisseur Barrie Kosky gelingt, Talmud und Kabbala auf die Bühne zu bringen. Ein Gastbeitrag.

In der Konrad-Adenauer-Stiftung wurde der Regisseur und Intendant der Komischen Oper, Barrie Kosky, jüngst als „maßgeblicher Theater- und Opernregisseur der Gegenwart" geehrt. Die Laudatio hielt Cilly Kugelmann, die frühere Programmdirektorin und jetzige Kuratorin des Jüdischen Museums Berlin. Wir dokumentieren ihre Rede in einer gekürzten Fassung.

Persönlich habe ich Barrie Kosky vor einigen Jahren kennengelernt, als wir am Jüdischen Museum Berlin an der neuen Dauerausstellung gearbeitet haben. Die Bearbeitung des Themas „Jüdisches Bildungsbürgertum“ stand an, für das ich ihn um einen Kommentar bat. Gemeint ist der Prozess der „Akkulturation“, die die Herausbildung eines „deutschen Judentums“ im Laufe des 19. Jahrhunderts zur Folge hatte. Charakteristisch für das deutsche Judentum war die Aneignung und Hervorbringung „deutscher Kultur“, die sich weitgehend in der Literatur, der Wissenschaft und der Kunst vollzog, Themen, deren visuelle Umsetzung nicht sehr aufregend ist.

Auf der Suche nach einem spannenden Beispiel für dieses Thema haben wir uns entschlossen, das Verhältnis der Juden zu Richard Wagner zu beleuchten. Um Wagners Musiktheater zu verstehen und zu schätzen, bedarf es einer genauen Kenntnis deutscher Literatur und Geschichte sowie einen Sinn für deren musikalische Tradition. Das Kriterium „Bildung“ war also gegeben. Ein weiterer, interessanter Aspekt stellt der Antisemitismus dar, und zwar im Zusammenhang mit der Frage, wie Juden vor und nach dem Holocaust mit diesem Phänomen zurechtkommen.

Für ein Leben in einer antisemitischen Gesellschaft, die noch keinen Massenmord kennt, ist das Beispiel der Juden zur Zeit Richard Wagners sehr reizvoll. Viele Juden befanden sich unter den enthusiastischen Bewunderern Wagners, obwohl er bekennender Antisemit war, was niemandem entgangen ist. Der Umstand, dass er Juden verachtete, hinderte sie nicht, seine Musik zu lieben und wertzuschätzen. Antisemitismus war widerwärtig, aber nicht tödlich.

Wir kennen Beispiele von jüdischen Wagner-Fans, die ihre Plattensammlungen im Fluchtgepäck nach Großbritannien oder Palästina transportierten. In dem entsprechenden Ausstellungssegment im Jüdischen Museum ist ein selbstgebasteltes Musik- Quartett zu sehen, das selbstverständlich auch einen Satz Wagneropern enthält.

Wie sollte man mit antisemitisch kontaminierten Inhalten umgehen?

Nach 1945 änderte sich das Bild. Aufgrund der Instrumentalisierung Wagners durch Hitler und seine Entourage wurde dieser Komponist, wie auch Richard Strauss, Carl Orff und andere auf den Index gesetzt und in Israel für Jahrzehnte vom Spielplan verbannt. Noch im Jahr 2001 wurde Daniel Barenboim ausgebuht, weil er in einem Konzert in Jerusalem Auszüge aus „Tristan und Isolde“ dirigierte.

Es lag daher nahe, Barrie Kosky und Daniel Barenboim zu befragen, ob und welche Überlegungen anzustellen sind, wenn antisemitisch kontaminierte Inhalte heute zur Aufführung kommen.

Barry Kosky hat mit seiner Inszenierung der „Meistersinger von Nürnberg“ in Bayreuth vor vier Jahren eine spektakuläre und eindrucksvolle Antwort auf diese Frage gegeben. Nicht nur wird die von vielen Interpreten antisemitisch konnotierte Figur des Beckmessers mit übergroßen Karikaturen aus dem Julius-Streicher Hetzblatt „Der Stürmer“ gerahmt; der Wettstreit selbst wird visuell vor den Nürnberger Gerichtshof gebracht.

Die für mich berührendste Szene gilt dem jüdischen Dirigenten Hermann Levi und dessen erbarmungswürdiger Bewunderung für Wagner. Hermann Levi, Sohn eines liberalen Landesrabbiners von Gießen, litt, so sein Autobiograph an „Wagneritis“. 1873 wurde er von Ludwig II. zum „Königlich-Bayerischen Hofkapellmeister“ berufen.

In dieser Funktion wurde er Wagner als Dirigent für den „Parsifal“ vorgeschlagen, was dieser mit Hinweis auf den „Ungetauften“ zunächst ausschlug. Wagners vergebliche Versuche Levi zur Taufe zu nötigen findet sich in Koskys Ouvertüre wieder, als Wagner die Figur des Levi zwingt, wie in der Kirche niederzuknien, wogegen dieser sich heftig sträubt. Diese Szene nimmt einen tragischen Aspekt der deutschen Juden auf, die ihre Idealisierung und Liebe zu Deutschland und der deutschen Kultur ein gutes halbes Jahrhundert später mit dem Tod oder der Flucht aus ihrer Heimat bezahlen sollten.

Koskys Textverständnis erinnert an die talmudische Lehre

Die dramaturgische Vorwegname des Menschheitsverbrechens setzt Kosky auch in anderen Produktionen ein. In dem Musical Anatvka führt ein Pogrom, in das die Protagonisten geraten, zu einem langen, irritierenden Stillstand der Handlung.

Der Chor in Moses und Aaron chargiert zwischen dem Eindruck einer aufgehetzte Masse, die bedrohlich an faschistische Aufmärsche erinnert und dem Eindruck abgemagerter Häftlinge auf einem Todesmarsch.

Beide Möglichkeiten sind legitime Lesarten der Israeliten, die nicht wissen, ob ein unsichtbarer, namenloser Gott ihre Zukunft sein wird oder ob sie betrogen werden. Kosky belässt es bei der Ambivalenz, und evoziert Bilder, die an den Massenmord erinnern.

Koskys Textverständnis, die Mehrdeutigkeit zulässt, erinnert an das Konzept talmudischer Lehre; die expressionistischen Bilder, die er für seine Stoffe findet, scheinen von kabbalistischen Motiven beseelt zu sein.

Im Talmud werden Passagen aus der Tora von rabbinischen Textgelehrten, – durchaus widersprüchlich – interpretiert, um der Auffassung gerecht zu werden, die offenbarte Lehre als ewige und zeitlose Wahrheit zu verstehen. Diese muss allerdings von jeder Generation neu entdeckt und übersetzt werden, damit sie nicht zur rätselhaften, unverständlichen Archäologie verkommt.

Für Kosky gehört die schmutzige Seite des Lebens zur Kunst

Dieses Vorgehen auf die Interpretation von Theater- und Opernliteratur übertragen, bedeutet den inhärenten Sinn der Stücke herauszuarbeiten, um sie einem zeitgenössischen Publikum plausibel zu machen. Die Sorgfalt dem Ausgangsmaterial gegenüber wird bei diesem Vorgehen ernster genommen, als die oft geforderte „Werktreue“, die nichts anderes ist, als das Ansinnen, ein Stück in dem Modus ritualisierter Wiederholungen immer wieder zu präsentieren.

Während das talmudische Vorgehen rationalistisch ist, eröffnet die Beschäftigung mit der Kabbala die emotionale und psychischen Seite des Daseins. Viele von Koskys bildgewaltigen und surrealistischen Inszenierungen erinnern an die dramatischen Bilder der lurianischen Kabbala, die einen Gott imaginiert, dem die Schöpfungsgeschichte aus dem Ruder läuft und somit Zerstörung, Unheil sowie das Böse in die Welt bringt.

Kosky betont immer wieder, dass die düstere und schmutzige Seite des Lebens ebenso zur Kunst gehört, wie Lebensfreude und Glück. Diese Haltung spiegelt sich in der Auffassung, die Operette so ernst zu nehmen, wie die Oper, die Trennung zwischen Spaß und sogenannter ernster Kunst zu verwerfen, die Burleske als Schwester der Tragödie zu inszenieren oder stereotype Figuren auf die Bühne zu bringen, um sie sogleich zu dekonstruieren.

Damit zeichnet er ein künstlerisches Portrait unserer Gegenwart, in der überlieferte Gewissheiten entwertet sind und eine Tendenz zur Irrationalität den Alltag bedroht, – ohne allerdings auch nur eine Sekunde lang auf die Unterhaltung des Publikums zu verzichten. In Abwandlung einer Einsicht, die Siegfried Kracauer seinem Studienobjekt Jacques Offenbach widmete, ist Barrie Kosky „der Spaßmacher, dem es ernster ist als denen, für die der Ernst nur ein Spaß ist“.

Cilly Kugelmann

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