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Kultur: Luciano Berio: Brüder, zur Neugier!

Wie weit ist die Distanz zwischen Tradition und Experiment? Bei den Berliner Festwochen etwa 400 Meter: Herausgespült aus der Philharmonie, wo gerade die letzten Takte der "Eroica" unter Rattle verklungen sind, geht der Weg vorbei an Richard Serras einander zärtlich zugeneigten Stahlplatten die Tiergartenstraße hinauf.

Wie weit ist die Distanz zwischen Tradition und Experiment? Bei den Berliner Festwochen etwa 400 Meter: Herausgespült aus der Philharmonie, wo gerade die letzten Takte der "Eroica" unter Rattle verklungen sind, geht der Weg vorbei an Richard Serras einander zärtlich zugeneigten Stahlplatten die Tiergartenstraße hinauf. Gegenüber einer zugemauerten Jugendstil-Villa erstreckt sich eine Hochsicherheitsresidenz mit doppelt umzäunten Schleusen. Nein, eine liebliche Landschaft ist dieses lose aufgebrochene exterritoriale Viertel wirklich nicht. Und doch macht die Passage glücklich, denn mit jedem Schritt durch die werdende Stadt verliert das aufs Traditionelle zielende Beharrungsvermögen der Wiener Philharmoniker etwas von seiner lähmenden Gewalt.

Angekommen in der Friedrich-Ebert-Stiftung sieht das alles ganz anders aus. An weiß lackierten Stahlkonstruktionen und Granitböden bleibt so schnell nichts haften. Bis zum Beginn des Nachtstudios mit Werken von Luciano Berio reicht die Zeit allemal, um mit einem Glas Schwarzriesling in der Hand eine Ausstellung über die serbische Widerstandsbewegung "Otpor" zu besichtigen. Das Auditorium zeigt sich zu später Stunde erstaunlich gut gefüllt, es herrscht Neugierde auf einen Neugierigen. Berio, 1925 in Ligurien geboren, ist einer der bedeutendsten Klangforscher unserer Zeit. Ein Musiker, der die Poesie liebt und zum Grundstein seiner elektronischen Werke machte. Ein Analytiker musikalischer Strukturen. Folgerichtig steht im Mittelpunkt des Nachstudios Berios work in progress, die "Sequenze". Seit 1958 erforschen diese inzwischen dreizehn Stücke die klanglichen Möglichen konventioneller Instrumente und rehabilitieren gleichzeitig das gern als unzeitgemäß gebrandmarkte Virtuosendasein. "Die besten Solisten unserer Zeit - modern in ihrer Intelligenz, ihrer Sensibilität, ihrer Technik - sind auch fähig, sich in einer weiten historischen Perspektive zu bewegen und die Spannungen zwischen den schöpferischen Impulsen von gestern und heute aufzuheben."

Eine gewaltige Aufgabe für die überwiegend jungen Musikerinnen und Musiker, die diese mit Charme und Geschick meistern: Maria Ollikainen geht leidenschaftlich in die Sequenza für Klavier, auch wenn der durch schwimmende Pedaltöne erzeugte Selbstkommentar nicht immer zu orten ist. In der Sequenz für Oboe formt Clara Dent wunderbar klar schwebende Mehrklänge und Melodiebögen heraus, während William Forman, lange Trompeter des Ensemble Modern, Virtuosität mit der Lässigkeit des erfahrenen Experimentators verbindet. Eine Nacht der überraschten Ohren, eine Ermutigung für Suchende.

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