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Kultur: Lust am Risiko

THOMAS VON STEINAECKER erkundet das Seelenleben einer Karrierefrau und unternimmt einen Ausflug in die Welt der Versicherungswirtschaft.

Wir leben im Zeichen des Schwarzen Schwans. Vermeintlich unwahrscheinliche Katastrophen sind ständig zu befürchten oder gar live zu verfolgen. Das verleiht der Figur des Versicherungsvermittlers ungeahnte zeitsymptomatische Qualitäten. Für Renate Meißner, die Ich-Erzählerin des neuen v. Steinaecker-Romans, gilt: keine Akquise ohne Angsterzeugung, keine Zukunft ohne worst case. Wo immer sie ist, ob im Restaurant oder Vergnügungspark, ihr professionell geschulter Möglichkeitssinn entwirft zur Kundenköderung umgehend lustvoll ausgemalte Risikoszenarien.

Dabei hat die 42-jährige Karrierefrau zu Katastrophen ein ambivalentes Verhältnis. Sie kennt das „echte“, für ihre Firma teure Unglück sozusagen bei seinen Vornamen, „nach denen wir nie unsere Kinder nennen würden, weil sie uns auf ewig an unbezahlte Überstunden (…) erinnerten“, als da wären: „Andrew, Mireille, Daria, Lothar“. Andererseits schaut sie abends gern eine DVD mit „XXL-Katastrophen“. Ob 9/11, Tsunami oder Hurrikan, die globalen Desaster verkünden ihr vor allem eines: eine plötzlich wieder offen scheinende Zukunft.

Nach einem Ausflug in die deutsche Kolonialgeschichte („Schutzgebiet“, 2009) kehrt Thomas von Steinaecker in seinem vierten Roman zurück zu dem, was ihn auszeichnet: der medial versierten Gegenwartsdiagnostik. Wie immer mit diversen literarischen Anspielungen, von Lewis Caroll über Musil bis zu Sebald, aber auch mit vielen, Barthes'sche Realitätseffekte zeitigenden Fotoabbildungen. Auch für seine Protagonistin aus der zynischen Welt der Versicherungswirtschaft gilt von Steinaeckers Einsicht: „Die Realität ist die Reality.“ Unsere Wirklichkeit ist immer schon eine medial inszenierte. Erstaunlicherweise ist der 35-jährige Romancier mit diesem Postulat in seiner Autorengeneration eine Ausnahme. Dass das mediale Apriori auch und gerade für unseren Blick auf Geschichte gilt, bewies bereits sein Erstling „Wallner beginnt zu fliegen“ (2007). Dieser sich dekonstruktivistisch in eine Retro-Zukunft schraubende Familienroman gehörte zu den innovativsten Werken der nuller Jahre.

Wie kein zweiter deutschsprachiger Autor untersucht von Steinaecker die durch Casting- oder Reality-Shows, Internet und Videogames bewirkten mentalen und sozialen Veränderungen – und ihre Konsequenzen für eine realistische Literatur, die den Anspruch hat, ihre Zeit zu durchdringen. Seine Figuren sind spätmoderne Wiedergänger der narzisstischen, von Identitätsverlust bedrohten Protagonisten der Wiener Moderne. Ständig fühlen sie sich im Fokus einer Kamera und oszillieren zwischen lustvoller Selbstpräsentation und den Abgründen ihrer Paranoia, verlieren sich zwischen Fakten und Fiktionen, suchen in Zufällen und Koinzidenzen nach verborgenen Bedeutungen.

Wie Renate Meißner, die heimlich, seit sie von angeblichen „Incentive“-Reisen für „Premium-Vermittler“ in osteuropäische Bordellen gehört hat, bei ihren Kollegen nach verräterischen bunten Armbändern Ausschau hält. Äußerlich die toughe Businessfrau, die sich Abend für Abend „Performance-Eigenevaluationen“ zumailt, ist sie in Wahrheit eine Burnout-Kandidatin. Hungergefühle bekämpft sie mit Seminar-Weisheiten, Träume kennt sie, da tablettenabhängig, nur noch aus Umfragen. Am 1. Oktober 2008, also zwei Wochen nach Lehman, tritt sie ihre leitende Stellung in der Münchner Filiale des fiktiven „Cavere“-Konzerns an. Offiziell ein Aufstieg, in Wahrheit ein von Walter, ihrem Frankfurter Ex im Cavere-Vorstand, besorgtes Abstellgleis für seine Geliebte, die sein Familienglück zunehmend gefährdete. Früher hätte man von falschem Bewusstsein gesprochen, heute wohl eher von „Gefühlen in Zeiten des Kapitalismus“. Ihr Ex, so Renate noch immer voller Bewunderung, sei ganz und gar ein „Gegenwartsmensch“. „Nur Gegenwartsmenschen sind dafür geeignet, größere Unternehmen zu führen. Nicht Vergangenheitsmenschen, nicht Zukunftsmenschen. Auch ich bin ein Gegenwartsmensch.“ Richtig daran ist nur, dass ihr die Zukunft nur noch als Risiko-, die Vergangenheit als Störfaktor erscheint.

Ständig bedrohen irritierende Erinnerungen ihre Effizienz: nicht nur an Walter und die verstorbene Mutter. Auch an die Oma, die gestorben sein soll, als Renate noch ein Kind war – offenbar eine Familienlegende. Als eine potenzielle neue „Premium-Kundin“ auftaucht, geraten die Dinge endgültig außer Kontrolle, und dieser grandios erzählte Wirtschaftsroman wird immer märchenhafter. Die aus München stammende, fast 100-jährige Prinzipalin eines russischen Vergnügungspark-Imperiums ist am selben Tag wie ihre Großmutter geboren. Ist Sofja Wasserkind in Wahrheit ihre Oma, will sie ihre Enkelin auf ihre Tauglichkeit als Erbin prüfen? In Wasserkinds Luna Park im russischen Samara begegnet die Versicherungsfrau endlich ihren Träumen wieder . Und im Gespräch mit der Greisin, die sich als Sebaldsche Ausgewanderte entpuppt, den Abgründen deutscher Geschichte.

Nur wer das Gestern kennt, hat auch ein Morgen, könnte die Botschaft des Romans lauten – und das, obwohl der worst case eintritt, Renates Abteilung aufgelöst und sie entlassen wird. Doch sollte man sich nicht täuschen: Die Samara-Renate verschmilzt im erinnernden Erzählen viel zu empathisch mit ihrem früheren Cavere-Ich, als dass man für ihre Zukunft Gutes erwarten dürfte.

Thomas v. Steinaecker: Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen. Roman.

S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2012.

390 S., 19,99 €.

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