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Kultur: "Luther und Faust": Hanswurst erklärt die Zeitenwende - eine kirchenkritische Premiere in Wittenberg

Wer sich in diesen Tagen Wittenberg auf der alten Reichsstraße nähert (mit dem Auto von Berlin aus nur knapp anderthalb Stunden), wird am Ortseingang mit einem quer über die Straße gespannten Transparent "Luther und Faust" begrüßt. Doch diese Konzilianz des Ordnungsamtes scheint die einzige Unterstützung der Stadt für den Theaterhöhepunkt ihres "Kultursommers 2000" gewesen zu sein.

Wer sich in diesen Tagen Wittenberg auf der alten Reichsstraße nähert (mit dem Auto von Berlin aus nur knapp anderthalb Stunden), wird am Ortseingang mit einem quer über die Straße gespannten Transparent "Luther und Faust" begrüßt. Doch diese Konzilianz des Ordnungsamtes scheint die einzige Unterstützung der Stadt für den Theaterhöhepunkt ihres "Kultursommers 2000" gewesen zu sein. Dass die Truppe um Peter Ries, Peter Schütze und Justus Ulbricht ihre "szenische Collage unter freiem Himmel" programmgemäß uraufführen konnte, hatte sie dem Best Western Hotel Stadtpalais Wittenberg, das seinen Innenhof als Bühne zur Verfügung gestellt hatte, und dem Wettergott zu verdanken.

Es war wie ein Wunder. Der Dauerregen hörte kurz vor Beginn der Vorstellung auf und setzte erst nach der Schlussszene wieder ein. Dass aber am Ende die Ehrengäste im Regen standen, hatte vor allem etwas mit der Dramatik der Schlussszene zu tun: Der Regisseur setzte sich die Schellenkappe auf, trat unerwartet vor das Publikum und ließ Sonnenblumensträuße an den Bürgermeister und anwesende Ratsherren mit der Bitte verteilen, sie zwischen den Seiten ihrer Sparbücher trocknen zu lassen. Da flog manchem Ratsherrn der spitze Hut vom Kopf. Doch neu war die Information nur für die wenigen auswärtigen Gäste und Pressevertreter. Das Mitteldeutsche Landestheater steht unmittelbar vor der Schließung, und man sieht sich nicht in der Lage, in Wittenberg andere Bühnenprojekte zu finanzieren. Im Rat der historischen Lutherstadt wird nicht über den Auftrag des "Weltkulturerbes" diskutiert, sondern über die Sanierung eines Klärwerkes.

Und das Land Sachsen-Anhalt hat schon genug Sorgen mit den weggebrochenen Chemiestandorten, um sich auch noch um Luther oder gar Faust in Wittenberg zu kümmern. "Luther und Faust" ist wohl das letzte Geschenk, das Peter Ries der Stadt und dem Land gemacht hat. Schon seine letzten Projekte in Wittenberg: "Engel und Dämonen" (1998) und "Katharinen Nacht" (1999) waren hoffnungslos unterfinanziert. "Luther und Faust" nun ist seine reine Privatinitiative, die er gegen den Widerstand der Stadt durchgesetzt hat und für die die Schauspieler buchstäblich ihre letzte Gage aufs Spiel setzten. Und es wurde ein beeindruckendes Spiel.

Dass "Theater unter freiem Himmel" bei Peter Ries, der bei Fritz Kortner und Boleslaw Barlog gelernt hat, kein Klamauk werden konnte, wusste man vorher. Wenn Komik aufkam, dann folgte sie dem Lehrmeister Brecht. Und mit Brecht ist Ries ein Gegner des deutschen "Brülltheaters". Es war eine bunte Szenenfolge der leisen, aber deutlichen Untertöne. Allein das ungewöhnliche Bühnenatrium zwischen Glasfassaden und altem Gemäuer zwang zur Strenge. Und die Zuschauer wurden mitgenommen in die Klausur. Der intellektuelle Anspielungshorizont zwang zur Konzentration.

Schon das Motto von Elias Canetti im Programmheft war eine Warnung: "Es kommt alles darauf an, mit wem man sich verwechselt." Es wurde einiges verwechselt - mit Absicht. Nicht nur Luther mit Faust, sondern auch Lessing mit Nietzsche beim Geschwindigkeitstest des Übergangs vom Guten zum Bösen, Goethe mit Thomas Mann, Heine mit Pinocchio, August Strindberg mit Walter Jens und vielen anderen. Manchmal auch Belehrung mit Unterhaltung, wenn zum Beispiel "der Jude Heinrich Wiesengrund" (Adorno) unter einer Leinwand mit der Frage "Aufklärung?" sitzt und über die Dialektik der Toleranz sinniert. Hervorragend aber Szenen wie die, wenn der Hanswurst, "die Zeitenwende" erklärt und als Direktor im "Vorspiel auf dem Theater" gleichsam vom "engen Bretterhaus" eine epische Inszenierung des gesamten Welttheaters verlangt.

Erfrischend ist auch, dass in der "Walpurgisnacht" nicht Goethes hässliche Hexen tanzen, sondern die sinnliche Mephistophela aus Heines Faustpoem, die gleichzeitig als schöne Helena im gläsernen Paternoster an der Außenfassade des Lutherhauses zwischen Himmel und Hölle verkehrt. Das Stück besteht nicht nur aus Verwechslungen, sondern auch aus Verwandlungen. Luther wandelt sich und mit ihm Faust. Diese Folge von Metamorphosen in eine Einheit zu bringen, war die große Schwierigkeit. So mussten allein die Darsteller von Faust (Immo Kronenberg) und Luther (Anselm Lipgens) elf verschiedene Personen darstellen. Ohne die Statisten waren knapp 100 Figuren (reale und historische) an dem Metamorphosenspiel beteiligt - historische Situationen und Konstellationen überschnitten sich in einem verwirrenden Verweissystem. Ein kleines Vorspiel auf Peter Steins Ekstasen des vollständig multimedialisierten Reclam-Heftes. Doch im Unterschied zu Stein stellt Peter Ries die Autorität der großen Texte in Frage und verweist mit Adorno auf die Gefahr, "profane Texte wie heilige anzuschauen". Das gilt für die Lutherbibel ebenso wie für den Tornisterfaust. Faust und Luther werden miteinander ausgesöhnt, ohne dass Mephisto eine Chance bekommt einzugreifen. Faust darf Magier bleiben und Luther nimmt Vernunft an. "Historia" und faustische Wirkungsgeschichte werden reformiert. Ein schöner Schluss, der aber für die Wittenberger Kirchenvertreter zu kritisch war. Ihre reservierten Premierenplätze blieben frei. Friedrich Schorlemmer war immerhin im Geiste da.

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