zum Hauptinhalt
Digitales Schlafzimmer. Lynn Hershman Leesons „Seduction“.

© Galerie

Lynn Hershman Leeson bei Aanant & Zoo: Kreuzung mit Computer

Eine Pionierin der Medienkunst kommt in die Berliner Galerie Aanant & Zoo. Lynn Hershman Leeson spürt der Cyborgisierung unserer Gesellschaft seit fünf Jahrzehnten nach und zeigt diese in ihren Werken.

Sie sind unter uns. Um Cyborgs zu treffen, muss man nicht ins Kino gehen, nicht einmal in eine Ausstellung. Es genügt, in den Spiegel zu gucken. Da erblickt man jemanden, dessen eine Hand nur noch im Zusammenspiel mit dem Smartphone funktioniert. Hat schon der Kommunikationswissenschaftler Marshall MacLuhan derlei geahnt, als er in den Sechzigern erklärte, dass Medien Extensionen des menschlichen Körpers sind?

Mit der US-Amerikanerin Lynn Hershman Leeson präsentiert die Galerie Aanant & Zoo eine Pionierin der Medienkunst (Preise: 4000–17 000 Euro). Seit fünf Jahrzehnten spürt die 1941 geborene Künstlerin und Filmemacherin der Cyborgisierung unserer Gesellschaft nach. „Das Leben, wie wir es kennen, verschwindet“, sagt die Künstlerin, sie konstatiert es ohne Bitterkeit, wie jemand, der ahnt, dass man die Entwicklungen nur aufzeichnen, nicht aufhalten kann. Sie deutet auf ihre jüngsten Werke, in denen sie sich mit Genmanipulationen auseinandersetzt. Eine Art Frankenstein-Atlas in Form einer Bild-Text-Tafel listet Hundertschaften real existierender Laborwesen auf: dank Quallengenen grünlich leuchtende Kaninchen oder pestizidresistente Auberginen.

Aus den 80er Jahren stammen Kreuzungen aus Hershmans Kunst-Labor: In der Collage-Serie „Phantom Limbs“ ersetzte die Künstlerin Körperteile attraktiver Frauen mit Kabeln, Steckern, Bildschirmen oder Fotoapparaten. Als sie 1996 ihre Klonpuppe „CybeRoberta“ vorstellte, speiste das Kameraauge der Figur Bilder der Betrachter ins Internet. Wer die Website anwählte, konnte auch den Blick der Puppe steuern. War Hershman vom Ausmaß der geheimdienstlichen Bespitzelung überrascht, als Snowden auspackte? „Mir war das seit dem ‚Patriot Act‘ von 2001 ziemlich klar“, entgegnet sie und verzieht den Mund zu einem traurigen Lächeln.

„!Women Art Revolution“

Der vieldeutige Ausstellungstitel „How to Disappear“ lässt offen, ob Unsichtbarkeit nun Segen oder Fluch bedeutet. Vom Radar des NSA möchte man liebend gern verschwinden. Wer konkret etwas zu sagen oder zu zeigen hat, möchte sehr wohl sichtbar sein. Zum Beispiel Kunstschaffende. Mit „!Women Art Revolution“ hat Hershman 2011 einen starken Dokumentarfilm über die Verdrängung feministischer (amerikanischer) Künstlerinnen auf der Berlinale präsentiert.

Ihre frühen Wachsarbeiten aus den 60ern sind nur auf Fotos zu sehen. Angeschmolzene Fragmente von Frauenkörpern und -gesichtern mit Titeln wie „Burning Woman“ oder „Burned Bride“. Mit solchen Skulpturen bestückte Hershman 1972 in San Francisco eine der ersten ortsbezogenen Installationen überhaupt: „Dante Hotel“ bestand aus Relikten erfundener Frauenfiguren in einem Hotelzimmer. Weil sie es im Kunstpatriarchat naturgemäß schwerhatte, war die Künstlerin auf diese Alternative zum Museum gekommen. Aber vielen Besuchern war der Kunstcharakter des Environments, zu dem eine Zeitungsannonce und ein an der Rezeption erhältlicher Schlüssel führte, nicht klar. Ein Besucher hielt das Zimmer für einen Tatort und alarmierte die Polizei. Die vermeintlichen Beweisstücke wurden aufs Revier gebracht. „Dort liegen sie wohl noch heute“, erzählt die Künstlerin.

"Lorna" als Wendepunkt

Ein Kontaktbogen, der Negativstreifen einer etwa 30-jährigen Frau zeigt, die Krankengeschichte dieser offenbar Depressiven und das Transkript eines (abgehörten?) Gesprächs zwischen ihr und einem Mann erinnern in der Ausstellung an Roberta Breitmore, die zwischen 1970 und 1979 von Hershman und vier anderen Darstellerinnen verkörpert wurde. Roberta war Inhaberin eines Bankkontos, machte ihren Führerschein und traf sich mit Männern. Die Kunstfigur Roberta fällt noch in die von Hershman als B.C. (Before Computers) bezeichnete Phase. Heute teilt sie ihr Werk in B.C. und A.D. (After Digital) ein, den Wendepunkt markiert ihre erste interaktive Arbeit „Lorna“. Erstmals 1984 wurde diese Kreuzung aus Frauenporträt und Computerspiel ausgestellt. Am Ende einer Partie erlebte der Spieler (der eben nicht mehr nur Betrachter war), wie die fernsehsüchtige Texanerin Lorna in ihrer Isolation verharrte, sich das Leben nahm oder, im Idealfall: ihr TV-Gerät zerschoss und ins Freie ging.

Damals reichte das vielleicht als Befreiungsschlag. Aber wir Cyborgs können uns kaum die Handys abhacken oder die Elektronengehirne wegpusten. Vielleicht sollte man nach der Devise einer koreanischen Filmkomödie leben: „I’m a Cyborg, But That’s OK“. Aber das kritische Denken nicht vergessen. „Vertrauen Sie der Kunst“, sagt Lynn Hershman Leeson zum Abschied. Kunst, die gegen den Datenstrom schwimmt. Sie hat recht.
Aanant & Zoo, Bülowstr. 90, bis 6. September, Mi–Sa 11–18 Uhr

Jens Hinrichsen

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false