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Kultur: Märchen sind wir alle

Ego sum fabula.Was sonst wäre ich, wenn nicht meine Vergangenheit, meine ErinnerungenVON GYÖRGY KONRADWas hält die Gemeinschaften zusammen?

Ego sum fabula.Was sonst wäre ich, wenn nicht meine Vergangenheit, meine ErinnerungenVON GYÖRGY KONRADWas hält die Gemeinschaften zusammen? Was hält die Religionen und die Familien zusammen, was die Nationen und die Parteien? Das gemeinsame Märchen, das, was wir lesen, worin wir unterwiesen werden, was wir auf Schritt und Tritt hören, wenn wir das Radio anstellen, und wovon in der Familie oder in der Kneipe die Rede ist, na, und was wir uns durch Bildung aneignen, den damit verbunden Stil und die entsprechenden Affinitäten. Doch wenn die Sache so steht, daß der Zusammenhalt durch das Märchen gegeben ist, dann werden wir gelegentlich mit Meisterwerken, gelegentlich aber auch mit Kitsch konfrontiert, und dann ist die Nation identisch mit den Erzählungen der nationalen Kunst, identisch mit diesen großformatigen, detailreichen und auf akademischem Niveau fabrizierten, literarisch gefärbten Gemälden. Diese Bilder müssen irgendeinen symbolischen, erhabenen Augenblick verewigen, wovon es uns warm wird ums Herz, all denen, die wir zu dieser Gemeinschaft gehören, die wir eben als die unsere betrachten.Ich sitze im ungarischen Parlament an einem langen Verhandlungstisch, zu beiden Seiten Schriftsteller beim Präsidenten der Republik, neben ihnen die Ungarn, gegenüber die anderen, vor allem Autoren aus den Nachbarländern, in ihrer Mehrheit Slawen. Ich hebe die Augen: Auf einem historischen Gemälde werden die Slawen von uns Ungarn gerade überwältigt.Wie klug vom Präsidenten, daß er ihnen einen Platz zugewiesen hat, auf dem sie der Szene den Rücken zukehren! Nun ja, das Gebäude und alle Gemälde darin sind bereits Kunstdenkmäler, zusammen mit den tableauartigen Schauplätzen unserer vor Kraft strotzenden und stolzen Triumphe. Um sich an diesen Bildern vergreifen zu dürfen, dazu ist der Präsident ein zu kleiner Mann.Mit einem Wort, solange der Landtag steht, werden wir auf seinen Gemälden selbstsicher Siegesbewußtsein ausstrahlen, und verzeihen können sie uns das nur im Wissen darum, daß auch sie stolz darauf sind, wenn sie uns das Fell gegerbt haben oder zumindest gern geglaubt hätten, daß derartiges in großem Maße geschehen sei. Der Mensch hat das Bedürfnis, irgendwohin zu gehören, und die Masse muß sich den Kopf nicht sonderlich darüber zerbrechen, wohin sie eigentlich gehört, sie erbt eine Märchensammlung, die für uns, das kollektive Ego, eher angenehm als unangenehm ist.Die Märchen schmeicheln uns, den Nachbarn vermögen unsere geflügelten Worte zu erniedrigen, jedes Volk hat ein Lieblingsbeispiel parat, ein besonders dummes, und jedes Volk ist äußerst findig, wenn es darum geht, ein anderes zu beleidigen, gelegentlich gerade dadurch, daß bestehende Eigenschaften karikiert werden. Nun, was für den Nachbarn eine Karikatur, das muß mir ein Selbstbildnis sein, also arbeite ich sie zu einer Apologie um.Sowohl das persönliche als auch das kollektive Ich sind im Eigenlob, wie auch im Heruntermachen der anderen, unendlich erfindungsreich. Die Säkularisierung hat das Heilige und das Teuflische in die Gefilde des Menschlichen, Historischen und Politischen verlagert.Heilig ist unsere Heimat, teuflisch der äußere und innere Feind, der uns okkupieren will oder sich selber nicht besetzen läßt. Teuflisch ist, wer uns im Weg steht.Wer aber steht uns meistens im Weg? Natürlich der Nachbar.Der Hader zwischen den Nachbarn war die intensivste Quelle für die Hexenprozesse.Im vergangenen Jahrhundert waren die europäischen Nationen relativ jung, sie hatten sich gerade selbst entdeckt, die Selbstdefiniationen hatten über die Determinationen gesiegt, und die kollektiven Ichs verhielten sich etwa ebenso wie die individuellen, nur ein bißchen mieser.Das Feuer des Vaterlandes ermunterte die Menschen zu schöpferischem Schaffen und Kriegen, zur Suche nach etwas Feierlichem, Schönem und Erhabenem, nach etwas Rührendem, nach einem gemeinsamen Heiligtum, vor dem wir den Hut ziehen können, was uns eint, was wir als etwas Unfehlbares, Heiliges und über allem Stehendes verehren, in dessen Namen wir den Schändlichen in Grund und Boden stampfen und sein Haupt zermalmen können, um selbst die Erinnerung an ihn auszurotten. Wenn wir erst einmal in Rage geraten, dann sind wir schrecklich, dann kommen wir mit Feuerschwertern, wie der Racheengel des Herrn, wie die vier Reiter der Apokalypse, dann sprengen wir über die Anmaßenden hinweg. Dieser Nationalismus des vergangenen Jahrhunderts war noch jung, und mit seinen Scharmützeln prahlte er wie Betrunkene mit ihren Schlägereien. Besitzen wir kampffreie Mythen, in denen also nicht die Rede davon wäre, daß wir die anderen getötet hätten? Na ja! Vielleicht.Nicht nur kirchliche, sondern auch weltliche Legenden gibt es, die frommer Taten, wie beispielsweise die Malerei, die gelegentlich auch weniger fromm sein kann, voll sind. Die verwegenen Phantasien unserer Zeitgenossen vermag sie in patriotischem Gewand gefügig zu machen.Das schlecht erzogene oder sich seiner Rüpelhaftigkeit gerade brüstende zwanzigste Jahrhundert hat die Trugbilder des wohlerzogenen neunzehnten aus dem Zwinger herausgeholt.Daß der Anblick der Massengräber eine Widerlegung des Pathos wäre, sollten wir nicht denken.Auf Massengräber kann jeder zeigen. Es gibt Namen, deren Erwähnung uns Tränen in die Augen treten lassen. Es gibt Bilder, die uns in der Intensität jugendlicher Imagination im Gedächtnis haften geblieben sind.Das Dichten von nationalen Mythologien wurde von der gleichen Leidenschaft gespeist wie der Bau von nationalen Bibliotheken, Theatern, Museen, Armeen und Flotten.Die Hauptstädte trugen ihre Rivalitäten mit Kanonen und Opern aus. Alle waren sie stolz darauf, etwas Größtes ihr eigen zu nennen.Am besten ist das jeweilige Wir.Das jeweilige Ihr ist nicht das Beste, das ist das Wenigste, was wir sagen können. Was für uns ein süßer Sieg, das ist für euch eine bittere Niederlage.Und umgekehrt.Gefunden haben sich die europäischen Nationen in der Opposition zueinander.Von unserem gemeinsamen Selbst gelegentlich ergriffen sein zu dürfen, scheint ein echtes Bedürfnis.Feste, an denen wir uns aus dem engeren Lebensbereich in irgendeine höhere Perspektive erheben, sind nötig.Wichtig sind sie, die sonntäglichen Hochgefühle, nötig sind nicht nur Wein und Fleisch, sondern auch das Pathos.Was die Dorfkirche schon im neunzehnten Jahrhundert nicht zu geben vermochte, das zu geben oblag dem Vaterland.Wer im Jahrhundert der Begeisterung für die Wissenschaft nach Hehrem suchte, dem kann in erster Linie nicht die Kirche, sondern eher das Vaterland in den Sinn.Am ehesten nahm das Heilige in jenem Gestalt an, der dafür sein Leben gegben hatte, im Denkmal des unbekannten Soldaten. Die kollektiven Mythen sind unvermeidlich, lediglich ihr Äußeres wandelt sich. Dies ist der Stoff, aus dem wir gemacht sind.Von den anderen persönlichen Erinnerungen kann der gemeinsame Mythos nicht losgelöst werden, die beiden Gedächtniskomplexe berühren einander.Sollten wir diese historische Malerei für heute nicht wirklich erstklassige, zu ihrer Zeit hochgeschätzte patriotische Gelegenheitsmalerei halten, die indes außerhalb der Kunst liegende Aufgaben übernommen hatte? Man kann nicht in allen und zu jeder Zeit vom Glück begünstigt sein.Wir sehen die Arbeiten von bürgerlichen Meistern, die sich zu Lebzeiten großer Achtung erfreuten und ihre Phantasie in sich befehdende Landesfürsten versenkten.Der bürgerliche Künstler begeistert sich für den Helden, und die Größe der Nation wird an der Größe uniformierter und martialischer Statuen gemessen.Jede Nation braucht eine Abstammungssage, ruhmreiche Anekdoten und die Erinnerungen an gemeinsames Leiden.Wenn wir keine Geschichte haben, existieren auch wir selbst nicht.Zu den religiösen Festen gesellten sich die nationalen, denen die an sie anknüpfenden pseudoliterarischen Erzählungen: emotionale Wirkungskraft verleihen.An den Loyalitäten gegenüber dem Mythos läßt sich die Loyalität gegenüber dem Staat ablesen.In ruhigen Zeiten schmücken die Wände der öffentlichen Gebäude Schlachtbilder, die private Wohnung Stilleben, Landschaftsbilder und Porträts.Im Grunde genommen betrachten wir die Werke einer naiven Epoche. Noch kannten die Menschen das Ende der Tendenzen nicht, sie wußten nicht, wohin die große Befreiung führt, als sich das Delirium der Nationen bemächtigt und in Hysterie übergeschwappt war.Wir aber, die wir bereits wissend sind, auch wir halten an den Funden der Mythen fest, und das nicht allein aus kulturhistorischer Neugier. Wir sehen sie anders als ihre Zeitgenossen.Uns ward die komperative, also die ironische Betrachtungsweise gegeben.Wir haben bereits erkannt, daß nichts internationaler ist als der nationale Mythos, der Beweis der eigenen Einzigartigkeit zu sein wünscht. Vor uns sehen wir die Staatskunst der liberal-konservativen Epoche, die Dokumente der Begegnung zwischen Spätromantik und bürgerlichem Historizismus, sorgfältige Arbeiten, die dazu berufen waren, dem sentimentalen Gedächtnis und der Phantasie ihrer Nation eine Richtung zu weisen; dieser Aufgabe sind sie in ihrer Zeit gerecht geworden, und heute unterweisen sie uns eher darin, daß das Pathos der jeweiligen Epochen schutzlos dem Humor der Vergänglichkeit ausgeliefert ist. György Konrád, Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Künste, hielt die vorstehende Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Mythen der Nationen" im Deutschen Historischen Museum (Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke).- Die Ausstellung ist bis zum 9.Juni im Zeughaus zu sehen.Der begleitende Katalog, der sich mit den bildprägenden Geschichtsmythen in achtzehn Ländern beschäftigt, kostet im Museum 48 DM.

GYÖRGY KONRAD

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