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Selbstvergessen. Emil Noldes „Tänzerin“ aus dem Jahr 1913.

©  Katalog

Malerei und Tanz: Der Rausch der Komposition

Ekstase ist alles: Eine Ausstellung in Hannover veranschaulicht in mehr als hundert Exponaten aus der Zeit der Jahrhundertwende bis in die dreißiger Jahre den Einfluss des Tanzes auf die Bildende Kunst.

Von Sandra Luzina

Als Mary Wigman in den zwanziger Jahren eine neue freie Form des Tanzes propagierte, traf sie den Nerv der Zeit. Wigman befreite den Körper aus dem starren Korsett der Konvention, für sie war Tanz Ausdruck seelischen Empfindens. Sie begeisterte nicht nur ihre Schülerinnen für den Tanz, sie zog auch die Künstler in ihren Bann. Die wechselseitige Inspiration von Tanz und bildender Kunst ist nun Thema einer Ausstellung im Sprengel-Museum Hannover. „Ohne Ekstase kein Tanz!“ lautet der Titel der Schau – das Motto ist von Wigman entlehnt.

Die Pionierin des Ausdruckstanzes studierte zunächst rhythmische Gymnastik in Hellerau. Dort begegnete sie Emil Nolde, der ihre Leidenschaft für den Tanz teilte. Der Expressionist gab ihr den Rat, in Ascona bei Rudolf von Laban zu studieren. Wie die Künstler sich gegenseitig beeinflussten, belegt auch eine Äußerung Noldes: „Es gaben die Tänzerinnen Anregungen zu meinen Bildern, und diese wohl auch einiges den Tänzerinnen wieder“.

Doch nicht allein Nolde war für den neuen Tanz entflammt. Die mehr als hundert Exponate aus der Zeit der Jahrhundertwende bis in die dreißiger Jahre veranschaulichen den Dialog zwischen Malern und Tänzerinnen. Die Revolution des Ausdrucks manifestierte sich parallel in der bildenden und darstellenden Kunst, und oft hatte der Tanz eine Vorbildfunktion inne. Sei es, dass er als Äußerung von gesteigerter Lebenskraft galt, sei es, dass er die Gesetzmäßigkeit der Gestaltung im Medium des Körperlichen artikuliert. Präsentiert werden Gemälde und Skulpturen, Grafiken von Henri de Toulouse-Lautrec, Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde, Pablo Picasso, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Oskar Schlemmer sowie einer Vielzahl weiterer Künstler. Filme und Fotos zeigen die Entwicklungslinien des freien Tanzes. Dabei konzentriert sich die Schau mit Loïe Fuller, Mary Wigman und Gret Palucca auf die drei berühmtesten Protagonistinnen. Das Sujet Tanz ist aber weit gefächert: Es reicht von der schillernden Welt der Varietés bis zur abstrakten Bauhaus-Ästhetik.

Bei Henri-Toulouse-Lautrec sind es noch die fließenden Formen des Jugendstils, die die Darstellung von Jane Avril prägen. Auch den Künstlern der Dresdener „Brücke“ werden Tänzer und Artisten zum bedeutenden Sujet. Von der „Ekstase des ersten Sehens“ schwärmte Ernst Ludwig Kirchner. Anfangs ging es ihm in seinen Zeichnungen noch darum, die Bewegung schnell zu erfassen und mit spontanem Strich festzuhalten. 1926 begegnete er Mary Wigman und ihrer ehemaligen Schülerin Gret Palucca, was einen tiefen Eindruck hinterlässt. Die Werke, die um das Motiv des Tanzes kreisen, sind nun durchkomponiert, wie auch die Tänze der beiden Frauen.

Wie wichtig der Tanz für sein künstlerisches Schaffen war, zeigt auch ein kleines Selbstbild von Kirchner aus dem Jahre 1930. In diesem Holzschnitt sieht man in Kirchners Pupille eine tanzende nackte Frau in rauschhafter Entgrenzung. Das erotische Moment, das oft mit der Rezeption des Exotischen verbunden war, spielte eine wichtige Rolle bei der Darstellung der Tänzerinnen. Ein besonderer Blickfang ist die Farblithografie „Tänzerin“ von Emil Nolde von 1913, auf der eine dunkelhäutige Schönheit in ausladenden Bewegungen ihre Scham zeigt. Doch die ekstatische Tänzerin wirkt völlig selbstvergessen – damit unterscheidet sich Noldes Darstellung von der kommerzialisierten Inszenierung des Exotischen in Revuen oder Völkerschauen.

Doch nicht allein erotische Energien prägen das Verhältnis von männlichem Künstler und tanzender Frau. Gret Palucca, die in regem Austausch mit Bauhauskünstlern stand, wurde als „abstrakte“ Tänzerin gerühmt. Zwei Aufsätze von Wassily Kandinsky tragen zu ihrem Ruhm bei. Kandinsky setzt die Bewegungen der Tänzerin in schematischen Grafiken um. In den Augen des Künstlers „ist der ganze Körper des Tänzers bis in die Fingerspitzen in jedem Augenblick ununterbrochen eine Linienkomposition.“

Bei den Künstlern aus dem Umfeld des Bauhauses ging es nicht mehr darum, sich in vitale Prozesse einzufühlen. So demonstriert die Schau auch den Widerstreit zwischen den Gestaltungsprinzipien Ekstase und Form, Chaos und Ordnung. Dass sich beides bedingt, davon war Mary Wigman überzeugt. Vollständig lautet ihre Maxime: „Ohne Ekstase kein Tanz! Ohne Form kein Tanz!“

bis 1. Mai, Sprengel-Museum Hannover, Di 10-20 Uhr, Mi bis So, 10-18 Uhr

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