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Kultur: Mama wird’s schon schaukeln

In Neukölln entsteht ein verschrobenes Billighotel: Die Zimmer werden von Künstlern gestaltet

Von außen betrachtet: ein ganz normales Wohnhaus in der Nähe des Tempelhofer Flugfeldes. Aber schon im Innenhof sieht das anders aus. Hier stehen Hollywoodschaukeln und an verschiedenen Stellen sprießt Grün. „Das war ein Versuch“, sagt Marylou, „ich wollte das Ganze hier lebendiger machen.“ Also kaufte sie Erde und schüttete sie auf den Asphalt, säte aus und pflanzte an. Das Resultat ist wie alles hier: etwas chaotisch, aber liebenswert.

Sich in der Fremde einzurichten – so lautet das Motto des ungewöhnlichen Hotels, das Marylou in Neukölln, Lichtenrader Straße 32, aufbaut. Was bei ihr beinahe genetischen Ursprungs ist. Denn Marylou, mit bürgerlichem Namen Rosemarie Köckenberger, erinnert sich an mindestens 16 Umzüge in ihrer Kindheit. „Meine Eltern waren immer neugierig auf Neues“, erzählt die 24-Jährige, „und ich hatte schon als Kind Spaß daran, andere Leute zu versorgen.“ Also entschloss sie sich, ein eigenes Billighotel mit Namen „Flamingo Beach Lotel“ aufzumachen – die Wortschöpfung steht für „Low Cost Hotel“ . Von Anfang an war der Autodidaktin im Hotelgewerbe klar, dass es sich nicht um einen „normalen“ Beherbergungsbetrieb handeln würde. Denn gerade erst hatte Marylou ihren Beruf als Erzieherin an den Nagel gehängt, um als Künstlerin zu leben. Außerdem findet sie, dass ein gewöhnliches Hotel nicht in ihren Kiez passt. „Klar gab es am Anfang Vorbehalte gegen mich“, gibt sie zu. Seit fünf Jahren wohnt sie im Quergebäude der „L 32“. Der Wohntrakt gleich vor ihren Augen stand leer, und der Insolvenzverwalter stimmte zu, als sie ihm ihre Idee von einem Art-Hotel antrug. Abgemacht war, dass sie die Betriebskosten übernehmen würde, aber bis zur Aufnahme des Hotelbetriebs keine Miete zu zahlen hätte. Was zunächst nach einer guten Lösung aussah, entpuppt sich derzeit als schwere Prüfung: Warmes Wasser gibt es nicht. Die Gasleitungen des Hauses müssen dringend saniert werden, bevor Heizung und Boileranlage in Betrieb genommen werden dürfen.

Marylou ist selbst überrascht, mit wie viel Gelassenheit ihre Gäste, die in den beiden einzigen fertigen Appartements untergebracht sind, darüber hinwegsehen. Sie bemüht sich trotzdem nach Kräften, einen Käufer für das Haus zu finden, um ihr Projekt längerfristig abzusichern. Denn die Entstehung des „Lotels“ schreitet, ungeachtet der ungeklärten Verhältnisse, seit Anfang Februar stetig voran. 30 Künstler und Künstlerinnen arbeiten in ihrer Freizeit hier, denn Honorare kann die „Herbergsmutter“ nicht zahlen. Das brachte ihr zu Beginn den Vorwurf ein, sie beute die Künstler aus. Tatsächlich aber sind die Übernachtungspreise so kalkuliert, dass sie wenig mehr als die Betriebskosten abdecken. Sämtliche Materialien und Möbel in den ehemaligen Wohnungen stammen von Freunden, Bekannten und Förderern.

Aisha und Wanda können solche Spenden gut gebrauchen. Wanda ist Anfang 20 und wird in Kürze ein Kunststudium beginnen. Bislang hatte sie mehrere Ausstellungen mit anderen Künstlern, nun gestaltet sie das „Waldzimmer“, in dem man sich wie im Unterholz eines Waldes fühlen soll. Eine Installation dieser Größenordnung ist eine echte Herausforderung für sie. Und man ahnt: Wahrscheinlich werden die Baumleichen im Hof, die – irgendwie – zu wenig Wasser bekommen haben, nicht die letzten Opfer bei dieser kollektiven Großanstrengung bleiben.

Das „River-Kwai“-Zimmer von Aisha und Alexandra ist dagegen fast fertig. Betritt man den Raum, so fällt der Blick auf einen leicht erhöhten, grob gezimmerten Steg, der zum Prunkstück führt: Einer Schaukel, die so an der Decke befestigt ist, dass sie aus dem Fenster schwingt. Das Bett ist in ein Podest eingelassen, das sich am anderen Ende der schon jetzt „sumpfig“ anmutenden Zimmerlandschaft befindet. Auch hier ist noch einiges zu tun, aber die Idee des Raums lebt bereits. Aisha, die visuelle Kommunikation an der Kunsthochschule Weißensee studiert, möchte eine zu enge Anlehnung an den gleichnamigen Film vermeiden – der sei „viel zu kriegerisch“. Tatsächlich ist der Raum eine Oase.

Anders das Bunkerzimmer: Die Decke ist abgehängt; dunkles Grau von allen Seiten verstärken ein Engegefühl, das man wahlweise als beschützend oder klaustrophobisch beschreiben kann. Einzig eine Lampe mit rotem Schirm vermittelt etwas Heimeligkeit. Und auch die „Truckerküche“, bislang der einzige von Hotelbetreiberin Marylou gestaltete Raum, findet nicht nur Anhänger. Auf der stark gemusterten Autotapete sind zehn lebensgroße Plastikpuppen aus dem Erotikversand befestigt. „Die habe ich von einem Bekannten geschenkt bekommen“, sagt Marylou. Aus den Ladenhütern werden jetzt Truckerschönheiten, die teils mit Schürzen und Häubchen bekleidet werden. Die Provokation ist kalkuliert, auch wenn sie weiß, dass es nicht jedermanns Sache ist, zwischen lebensgroßen Nackten zu frühstücken. Die derzeitigen Gäste – vier junge Spanier aus Valencia – scheinen die Figuren zu mögen. Bislang gab es überhaupt erst eine Besucherin, die das Lotel sofort wieder verließ.

Ausgesprochen wohl fühlten sich die drei jungen Amerikaner Chris, Ryan und Emmett. Sie gehören zu einer Gruppe, die Marylou selbst in ihrem Haus nicht vermutet hatte: Fußballfans. Keinen der jungen Männer schien zu stören, dass im Treppenhaus noch Farbeimer und Leitern stehen. An denen vorbei geht es zur Rezeption des „Flamingo Beach Lotels“, die wie ein Kunst-Kiosk funktioniert. Viel Pink und viele Flamingos schmücken den Raum, der weit mehr ist als der normale Tresen zum Ein- und Auschecken – ein Museumsshop, in dem die Künstler kleine Andenken an die Reisenden verkaufen. Auch wenn noch viel zu tun bleibt, eines hat Marylou jetzt schon erreicht: Ihre Gäste fühlen sich wohl in dem Haus. Sie nennen es „Hotel Mama“.

Flamingo Beach Lotel, Lichtenrader Straße 32, 12049 Berlin, Tel.: 959 971 04. Die Kosten für eine Übernachtung liegen zwischen 19 und 32 Euro. Nähere Infos unter: www.l32.de

Elke Kimmel

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