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Kultur: Mann der Barmherzigkeit: Der kasachische Dichter schreibt wütende Zivilisationskritiken

Jeder Dichter, das pfeift der Volksmund über die Steppen Mittelasiens, muss zwei Regeln einhalten: Er muss auswendig 10 000 Verse eines anderen Dichters kennen und niemals darf er glauben, seine eigenen Worte schafften etwas neu. "10 000 Verse", wiederholt Muchtar Schachanow, der kasachische Dichter, in hartem russischem Idiom.

Jeder Dichter, das pfeift der Volksmund über die Steppen Mittelasiens, muss zwei Regeln einhalten: Er muss auswendig 10 000 Verse eines anderen Dichters kennen und niemals darf er glauben, seine eigenen Worte schafften etwas neu. "10 000 Verse", wiederholt Muchtar Schachanow, der kasachische Dichter, in hartem russischem Idiom. Seine Mandelaugen sind plötzlich kugelrund, als wollte er stellvertretend für sein europäisches Gegenüber das Erstaunen und die Ehrfurcht vor dieser Tradition vorwegnehmen. Dann greift er zu seinem eigenen, über 200 Seiten dicken Buch, das neben ihm auf dem Bett liegt, und wiederholt noch einmal: "10 000 Verse! - Das hier sind gut 3000." Auch diese 3000 kann schon jemand auswendig, berichtet Schachanow, "ein junger Kasache, der einmal auf ihn zutrat und einfach zu rezitieren begann".

"Irrweg der Zivilisation" heißt das so verehrte Werk in der kürzlich erschienenen deutschen Übersetzung, die nun der Grund dafür ist, dass sein Autor in diesem Zimmer am Wannsee sitzt und an die kasachische Steppe denkt. Als Stipendiat des Literarischen Colloquiums Berlin bereist Muchtar Schachanow seit Anfang März die Bundesrepublik, liest seine Dichterklage über den Irrweg einer Weltgesellschaft, die vom Mark zivilisiert wird statt vom Geist, und feilt an noch Grundsätzlicherem für die Zukunft: "Die kosmische Formel des strafenden Gedächtnisses" lautet ein anderer Titel.

Sektiererisch mögen diese Sätze in europäischen Ohren klingen, in Zentralasien bezeichnen sie das moralische Pathos, das von einem Dichter erwartet wird: Bewahren und Warnen, Kulturgedächtnis und moralische Instanz. Fast jeder kann in Kasachstan und Kirgisien ein Lied von Schachanow singen. Dort gilt er als "Dichter des Volkes", eine Auszeichnung der UNESCO nennt ihn "Mann der Barmherzigkeit". Schon als 16-jähriger Traktorist war der 1942 im kasachischen Schimkent geborene Muchtar einer der bekanntesten Dichter seines Landes. Seine Lieder über die Tugenden der Dschigiten gehören zum Alltag der Menschen, sein Mut zu ihrer politischen Geschichte. Denn Mitte der achtziger Jahre, als die Perestroika im fernen Moskau noch sachte an die Hinterköpfe der Menschen klopfte, gründete Schachanow in Kasachstan eine eigene demokratische Partei und scheute sich nicht, vor dem Volksdeputiertenkongress in Moskau die erste blutige Niederschlagung einer demokratischen Bewegung durch den KGB 1986 im kasachischen Almaty anzuklagen.

Zum Privatvergnügen schreibt Schachanow nicht, einem Geist der Sittlichkeit redet er das Wort und verdammt alles Maßlose. Ein Herrscher der Gedanken möchte er sein. "Heute verlieren die Menschen jedes Maß, Sport dient dem Körperkult, nicht dem Geist. Und was Hitler nicht geschafft hat, die Völker im Osten zu verdummen, das besorgt nun die Musikberieselung überall."

Genau dasselbe steht in seinem Buch, nur in Versform - im Stil der orientalischen Dastan. Tatsächlich kommt man bei der Lektüre nicht selten auf den Gedanken, die Entfernung zwischen Deutschland und Kasachstan bemesse sich in Jahrhunderten. Fremd oder unverstanden aber fühlt sich Schachanow nicht. Ebenso gleichmütig, wie er auf die staubigen Straßen der Hauptstadt Kirgisiens blicken mag, wo er seit 1993 als außerordentlicher Botschafter der Republik Kasachstan lebt, schweift sein Blick über den Wannsee. Dichter sein und Botschafter, einsamer Geist und Repräsentant seines Volkes, das ist eins - alles nur eine Frage der Geisteshöhe.

Schachanow erzählt das Gleichnis von den drei Flughöhen des Bewusstseins: Die niedrigste ist die der Hühner, die nicht mehr als 20 Meter schaffen und doch glauben, sie seien im Himmel. Die zweite ist die der Flugzeuge. Zwar fliegen sie Kilometer hoch, doch sieht man auch aus dieser Höhe die Erde nur in Stücken und kann daher nichts aussagen über sie. Die dritte Flughöhe aber reicht bis in den Kosmos. Hier ist das Denken frei von der irdischen Schwerkraft und den menschlichen Schwächen. Und plötzlich meint man, wenn man Schachanow reden hört, er befinde sich gar nicht am Wannsee, sondern sei längst in irgendeine Umlaufbahn aufgebrochen. Ob er irgendwann wieder auf die Erde zurückfindet?Muchtar Schachanow: Irrweg der Zivilisation. Pendo Verlag, Zürich/München 1999, 253 Seiten, 38 DM

Doris Meierhenrich

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