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Kultur: "Marabus": Ich bin viele

Es stimmt ja gar nicht, dass die Welt längst entzaubert ist. Man muss nur wissen, wo der Zauber sich verbirgt.

Es stimmt ja gar nicht, dass die Welt längst entzaubert ist. Man muss nur wissen, wo der Zauber sich verbirgt. Zum Beispiel in den Wänden zerfallener Pariser Häuser. Die Penner klopfen sie ab, denn sie wissen, manch einer hat darin eine Kassette vermauert, mit kostbaren Schätzen darin. Sie klopfen also, horchen - und finden mitunter nur wertlose Korrespondenz.

Genauso dreht der in Frankreich lebende Georgier Otar Iosseliani seine Filme: wie ein Vagabund, der mit der Wünschelrute auf Glückssuche geht und dabei auf den Zufall vertraut. Welche Geschichten er aufstöbert, welche Helden er ins Bild setzt und wessen Wege sie kreuzen, ist gar nicht so wichtig. Wichtig ist die Suchbewegung: der schweifende, offene Blick, mit dem der Filmemacher seiner unersättlichen Neugier und anarchischen Lust nachgeht, tausendundeine Geschichten zugleich zu erzählen.

Etwa das Märchen vom Reichtum. Nicolas (Nico Tarielashvili), 19 Jahre alt, lebt im Schloss, seine Mutter (Lily Lavina) macht knallharte Geschäfte und singt gerne Schubert, sein Vater (Iosseliani selbst) trinkt den Weinkeller leer, stimmt lieber georgische Lieder an und lässt sich zur Schießübung im Wald vom verschrobensten Butler seit Erfindung des Dienstpersonals begleiten, während das Hausmädchen beim Fensterputzen ihre Fassadenkletterkünste trainiert. Ein Tollhaus mit Laptops und Porzellanfigurinen, eine Welt zwischen den Welten. Durch die Salons stolziert ein Marabu. Was macht der Marabu im Schloss? Nichts. Er ist einfach nur da.

Oder das Märchen von der Armut. Am Tag fährt Nicolas mit dem Boot über den Kanal in die Stadt und ist ein anderer, ein Tagedieb, Tellerwäscher, Bettler. Auch das Viertel, in dem seine Freunde leben, ist eine Welt zwischen den Welten, eine Polyphonie von Einzelgängern: ein Devotionalienhändler mit Mordgelüsten, ein Tierarzt mit geigespielendem Buben, ein afrikanisches Ehepaar in prächtigen Gewändern, Jogger, Motorradfahrer, Eckensteher. Nur die hübsche Kellnerin will von Nicolas nichts wissen. Sie gibt sich lieber dem Hilfsarbeiter Gaston hin, den sie fuer reich hält. Dabei täuscht der all seinen Besitz nur vor, während Nicolas sich abends wieder in den Sohn aus reichem Hause verwandelt. Kleider machen Leute; auch Arbeit kann adeln, und niemand ist, was er scheint. Außer dem Marabu.

Iosseliani, der aus seiner politischen Gesinnung eines Monarchisten nie einen Hehl gemacht hat, ist vielleicht der letzte klassenkämpferische Regisseur in Europa. Und obwohl er "Marabus" damit beschließt, dass auf Dauer doch niemand aus seiner klassenspezifischen Haut kann, macht es Spaß zu sehen, wie er mit den Identitäten jongliert, mit den simulierten, geliehenen und verlorenen Existenzen seiner Helden.

Das Leben ist ein Verwirrspiel, ein wundersames Chaos, in dem man sich gleichwohl trefflich einrichten kann. Das heißt, wenn der Zufall es will. Wie jener glückliche Umstand, der den weintrinkenden Schlossherrn am Ende mit seinem Landsmann, dem glückssuchenden Penner, zusammenführt, auf dass die beiden Alten ihre sentimentalen georgischen Volksweisen nun gemeinsam anstimmen können, während sie aufbrechen aus ihren Zwischenwelten und hinaussegeln aufs offene Meer gleich hinter Paris.

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