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Kultur: Marathon rund um den Globus

Überall dort, wo gewerkelt, fabriziert oder gar gebraut wird, befinden sich in Berlin Bauhütten der Off-Kultur.Sie stehen in der Weite des Stadtgebiets, am Rand der großen Boulevards, und mit den hochragenden Kränen der offiziösen "Bau- und Schaustelle Berlin" haben sie nichts zu schaffen.

Überall dort, wo gewerkelt, fabriziert oder gar gebraut wird, befinden sich in Berlin Bauhütten der Off-Kultur.Sie stehen in der Weite des Stadtgebiets, am Rand der großen Boulevards, und mit den hochragenden Kränen der offiziösen "Bau- und Schaustelle Berlin" haben sie nichts zu schaffen.In den ausgedienten Produktionsanlagen, wo früher Bier oder Filmstreifen entstanden, treten heute Künstler auf, die noch an den Ufern des Mainstreams stehen oder sich dem Sprung in den reißenden Fluß verweigern.

Wo aber "Kultur" im Plural erscheint, steht Multikulti auf dem Programm.So bei der Werkstatt der Kulturen, die kürzlich ihr fünfjähriges Bestehen feierte.Im Oktober 1993 hatte sie ihre Tore auf dem Gelände der alten Schultheiss-Brauerei in der Neuköllner Hasenheide geöffnet.Vorausgegangen war eine Anregung des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters Richard von Weizsäcker, eine interkulturelle Begegnungsstätte einzurichten.Gefördert wurde das Projekt von der Ausländerbeauftragten des Senats, Barbara John.Weil die Werkstatt ihren Etat auch weiterhin von dieser Stelle bezieht - jährlich 1,3 Millionen Mark -, liegt das Ziel folgerichtig in der Integration ausländischer Mitbürger.Ursprünglich hatte man überlegt, zu diesem Zweck Workshops für Asylbewerber anzubieten.Doch die allzu normative Forderung nach gegenseitigem Verständnis, ein sozialpädagogisches Relikt aus den 70er Jahren, wurde fallengelassen.Statt dessen baut man heute auf ein real vorhandenes, gemeinsames Interesse, gerichtet auf die künstlerischen Ansätze der Migranten.Dabei versteht sich die Werkstatt der Kulturen als eine Art Vermittlungsagentur für ausländische Künstler, die in Berlin entweder heimisch geworden sind oder hier länger Station machen.

Wie so etwas funktionieren kann, hat erneut der "Musica Vitale"-Wettbewerb gezeigt.Zum dritten Mal gab es einen "Musikpreis der Kulturen", bei dem die Gewinner 4000 Mark erhielten.Im April hatten sich knapp 200 professionelle Musikgruppen aus über 30 Nationen angemeldet.Davon wurden 28 Bands und sechs Solisten für die Vorausscheidung ausgewählt.Auch die fünfköpfige Jury war international besetzt.Prominentes Mitglied: der Direktor der Maison des Cultures du Monde in Paris, Chérif Khaznadar.Auf dessen Initiative wurde ein Sonderpreis gestiftet - zur Erinnerung an Habib Touma, den verstorbenen Mitbegründer des "Musica Vitale"-Wettbewerbs und Manager des Festivals für Traditionelle Musik im Haus der Kulturen der Welt.

So war das Konzert der insgesamt fünf Preisträger am Freitag ein spannender Marathon, der über den ganzen Globus verlief - in Neukölln.Da saß der 21jährige Taner Akyol, ausgezeichnet in der Sparte "Nachwuchssolist", und verwandelte seine virtuos gespielte Baglama-Laute in eine anatolische Country-Gitarre.Das Ensemble Ahava Raba (hebräisch für "viel Liebe") klang wie die osteuropäische Version einer Street Band, die zwischen Strawinskys "Bauernhochzeit" und balkanischem "Bolero" experimentiert.Paprikascharfen Groove dagegen lieferte das deutsch-ungarisch-russische Quintett "The Transsylvanians" mit seinem unausgesprochenen Credo "Pogo-Party statt Bauernhochzeit".Spätestens hier kam der gemeinsame Nenner zum Vorschein, auf den sich die aufgeschlossene Jury wohl geeinigt hatte: jedwede Musik östlich von Berlin.

In dieser Richtung lag dann, fernöstlich vom Balkan, sogar Mexiko.Ausgezeichnet mit dem Habib-Touma-Sonderpreis, einer Einladung zur CD-Produktion nach Paris, spielte die Gruppe Mariachi Dos Mundos auf.Die sieben mexikanisch-deutschen Musiker hüllten jauchzende Melancholie in selten fülligen Sound - unter Sombreros, deren Krempe die Spannweite eines Truthahngeiers noch übertraf.Zuletzt ging es, immer weiter östlich, wieder nach Berlin.Und wieder fort.Denn IG Blech stand auf der Bühne: jene schon legendäre Band, die sich selber als "kulturelle Spätfolge der Studentenbewegung" bezeichnet und deren 18 zumeist deutsche Musiker sich durch die bekannten Rhythmen aller Kontinente blasen.Von der Piccolo-Flöte bis zur Baßtuba ausgerüstet, gab die buntkostümierte Heavy-Messing-Kapelle einen spektakulären Mix aus Jazz, Latin und Klezmer zum besten.

Lustvolle Eklektik zwischen den Kulturen: das ist ein typisches Werkstattprodukt.Dahinter steht für Geschäftsführer Andreas Freudenberg "work in progress" mit einer kulturellen Diaspora, die ständig in Bewegung ist, ihre Traditionen pflegt und erneuert, um schließlich, zusammen mit den Einheimischen, ihr eigenes Milieu zu überschreiten.Authentische Berlinkultur, so behauptet man in der Werkstatt, sei nicht zuletzt das historische Ergebnis der Zuwanderung von Bevölkerungsgruppen.Für provinziell denkende Berliner mag das provozierend klingen, für die Metropole dagegen reizvoll.Hatte nicht auch der Alte Fritz in gewisser Weise den Multikulti-Begriff vorweggenommen, indem er Hugenotten und andere Kulturgemeinschaften einlud, in Berlin "nach ihrer Fasson selig zu werden"?

Die Werkstatt der Kulturen jedenfalls streicht ihren Hauptstadt-Bezug heraus: "Werkstatt für die Weltstadt", lautet die aktuelle Losung.Und die Produktion geht weiter.Seit Beginn der Einrichtung ist die Anzahl der beteiligten Künstler, Vereine und Nationalitäten kontinuierlich gestiegen.Auch die Akzeptanz hat sich erhöht: Im vergangenen Jahr kamen über 23 000 Besucher auf das Gelände in der Wissmannstraße.Nur die Summe von 120 000 Mark, die aus dem Erlös von Eintrittskarten und Gastveranstaltungen ergänzend zur Projektförderung erwirtschaftet werden muß, ist konstant geblieben.Größere Sponsoren halten sich bisher zurück, denn das kunterbunte Werkstatt-Publikum läßt sich nur schwer einer klar definierten Zielgruppe zuordnen.Im gelben Klinkergebäude indessen laufen bereits die Vorbereitungen für den kommenden "Karneval der Kulturen".Und spätestens dann wird sich wieder zeigen, wie auch die vermeintliche Nischenkultur in der Lage ist, sich der großen Plätze der Stadt zu bemächtigen.

ROMAN RHODE

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