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Mr. Memory. Der Dokumentarfilmer Marcel Ophüls.

© Britta Pedersen/dpa

Marcel Ophüls zum 90.: Chronist menschlicher Bestialität

Der Oscarpreisträger Marcel Ophüls sucht in seinen Dokumentarfilmen nach der Wahrheit in den Abgründen der Geschichte. Am Mittwoch ist er 90 Jahre alt geworden. Eine Gratulation.

Der Balzac das Kinos, ein Detektiv im Lügenlabyrinth, Mr. Memory – so wird er gerühmt, er selbst nennt seine Autobiografie „Meines Vaters Sohn“. Nie hat dieser Sohn den Ruhm des Vaters als Belastung empfunden, im Gegenteil. Mit milder Ironie verweist er darauf, dass natürlich die Spielfilm-Melodramen von Vater Max – wie „Liebelei“ oder „Lola Montez“ – leichter beim Publikum ankommen, als seine eigene dokumentarische Spurensuche nach Details menschlicher Bestialität wie „Das Haus nebenan“ (1969), „Nicht schuldig?“ (1974/75) oder „Hôtel Terminus“ (1985/88).

Dabei fing auch Marcel Ophüls ganz harmlos an, mit der Gaunerkomödie „Heißes Pflaster“ (1963). Aber die Besetzung lässt aufhorchen: Jeanne Moreau, Jean-Paul Belmondo, Gert Fröbe, Claude Brasseur, Charles Regnier. Davor liegen Kindheit und Jugend, die sein weiteres Leben entscheidend mitbestimmten: 1927 in Frankfurt/Main geboren als Sohn der Schauspielerin Hilde Wall und des Regisseurs Max Ophüls, 1933 Emigration nach Frankreich, 1940 in die USA. Die Vierziger verbringt er in Hollywood, in den Fünfzigern kehrt er nach Frankreich zurück. Er wird zunächst Assistent bei John Huston, Anatole Litvak, Julien Duvivier und seinem Vater, 1955 bei „Lola Montez“.

Es geht um Fragen des Jahrhunderts

Dann folgen die Mammut-Dokumentarfilme, die seinen Ruf begründen: über die Kollaboration in Frankreich, über die Nürnberger Prozesse, über Zeit und Leben des Klaus Barbie. Es geht um Fragen des Jahrhunderts, dabei schont er niemanden – nicht sich selbst, nicht seine Figuren, nicht den Zuschauer. Die Werke von jeweils viereinhalb Stunden werden zunächst gekürzt, zensiert, verboten; im Schneideraum wachsen ihm die über hundert Stunden Material über den Kopf und er will Selbstmord begehen. Er kämpft sich und seine Filme zu den richtigen Fassungen durch. Für „Hôtel Terminus“ erhält er schließlich den Oscar.

Wie entstehen unter totaler Repression blinder Gehorsam, Unterwerfung und Denunziantentum und warum bleibt in „Das Haus nebenan“ dennoch ein Rest Humanität erhalten? Wie verteilen sich Schuld und Sühne bei einem Tribunal? Der deutsche Titel „Nicht schuldig?“ (1974/75) nimmt die Antwort der Kriegsverbrecher vor Gericht als Frage auf: Das bekundeten Göring und Konsorten, die doch nur ihre „Pflicht getan haben“. Ebenso die Alt-Nazis in Schleswig-Holstein, die von deutscher Kraft und brauner Herrlichkeit schwärmen. Und wie konnte der „Schlächter von Lyon“, Klaus Barbie, der im Hôtel Terminus die Zimmer zu Verhör- und Folterkammern der Gestapo umfunktionierte, nach dem Krieg noch jahrzehntelang als Agent westlicher Geheimdienste weiter sein Unwesen treiben?

Historische Stoffe verdichtet zu crime stories

Unbeirrt forschte Ophüls nach den Vorgängen der Vergangenheit und ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Dafür wühlte er sich durch Archive und Wochenschauen, reiste Tausende von Kilometern, sprach mit Hunderten von Anklägern und Angeklagten, Zeugen und Zeitgenossen, Richtern und Mördern, Feiglingen, Mitläufern, Widerstandskämpfern und deren Kindern, Erben, Nachbarn, Bekannten. Er brachte sie dazu, mehr zu sagen, als sie wollten und als sie selbst merkten, konfrontiert ihre Lügen mit Gegenbeweisen oder mit ironischen Versatzstücken der Unterhaltungsindustrie.

Die virtuose Montage seiner Quellen verdichtet die historischen Stoffe zu aufregenden crime stories. So werden in den Filmen nicht nur Themen abgehandelt, sie werden selbst zu historischen Zeugnissen. Der Schöpfer einer trotz allem optimistischen tragédie humaine, der leidenschaftliche Wahrheitssucher in den Abgründen eines Jahrhunderts. Am 1. November wird Marcel Ophüls 90 Jahre alt.

Helmut Merker

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