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Mario Vargas Llosa: Der Mann, der Afrika retten wollte

Mario Vargas Llosa schildert das Leben des irischen Freiheitskämpfers Roger Casement

Der erste Völkermord der Moderne begann damit, dass John Boyd Dunlop seine Ruhe haben wollte. Genervt vom scheppernden Dreirad seines Sohnes, erfand der Belfaster Tierarzt 1888 den luftgefüllten Gummischlauch. Bald wollte jeder pneumatisch gepolstert durch die Straßen kurven – dass der Preis dafür ein Massenmord war, blieb lange unbekannt. Gemeint sind nicht etwa Unfallopfer, sondern die von europäischen Unternehmen zur Kautschukgewinnung ausgebeuteten Völker zuerst Zentralafrikas und später Amazoniens.

Allein im belgischen Kongo starben bis 1908 zwischen fünf und zehn Millionen Afrikaner. Publik wurden die „Kongogräuel“ erst nach 1903, als eine der ersten Medien- und Menschenrechtskampagnen das Selbstverständnis der „zivilisierten“ Welt erschütterte. Heute ist der belgische König Leopold II. unter den großen Massenmördern der Geschichte wohl der unbekannteste, so vergessen wie sein damals berühmter Gegenspieler, der irische Abenteurer und britische Diplomat Roger Casement (1864 -1916).

Deutsche Leser kennen diese schillernde Persönlichkeit aus W. G. Sebalds „Die Ringe des Saturn“ (1995); für Sebald war es gerade die von Casements Feinden ans Licht gezerrte Homosexualität, die ihn für das an den Kolonialvölkern begangene Unrecht sensibel werden ließ. Nun hat Mario Vargas Llosa dem irischen Nationalhelden, der von den Engländern für seine Beteiligung am Osteraufstand als Hochverräter hingerichtet wurde, einen opulent erzählten Roman gewidmet. Der zwischen Idealismus und Leidenschaft, aufgeklärtem Humanismus und mystischem Märtyrertum zerrissene Casement ist eine Figur ganz nach dem Geschmack von Vargas Llosa, der 2010 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde.

Mit seinem Traum von einer gerechteren Gesellschaft erinnert Casement an die Utopisten des Romans „Das Paradies ist anderswo“ (2003). Das Lob des Nobelkomitees für die in Vargas Llosas Werken zu findende „Kartographie von Machtstrukturen und seine scharf gezeichneten Bilder vom Widerstand, von der Revolte und dem Scheitern des Individuums“ beschreibt präzise auch diesen Roman. Darin sitzt ein angesichts des blutig gescheiterten Osteraufstands und seinem Misserfolg, diesen in letzter Minute aufzuhalten, verzweifelter Roger Casement 1916 in der Todeszelle und hofft auf ein Gnadengesuch. Dieses wurde von G. B. Shaw und Arthur Conan Doyle unterstützt, nicht aber von seinen früheren Freunden wie Joseph Conrad. Der hatte bereits 1899 mit „Heart of Darkness“ auf „the horror, the horror!“ im belgischen Kongo aufmerksam gemacht. Doch wie bei Vargas Llosa eine Figur bemerkt, liegen Welten zwischen Conrad und Casement: Conrads berühmte Novelle zeigt, was das finstere Afrika aus zivilisierten Europäern machte, der „Casement-Report“ von 1904 dagegen registriert den Horror, den Europäer über Afrika brachten.

Zwischen den Gefängnis-Kapiteln entfaltet Vargas Llosa in biografischen Kapiteln Casements Entwicklung vom naiven Idealisten über den mutigen Kolonialismuskritiker bis zum militanten Freiheitskämpfer. Als 1885 der Kongo Privatbesitz Leopolds II. wurde, sah auch der Ire darin einen Grund zum Feiern. Würde doch dieser philanthropische Monarch die armen „Neger“ vom Kannibalismus befreien, ihnen Zivilisation, Handel und Christentum schenken. Roger Casement hatte 1884 an der Seite des zwielichtigen Abenteurers Henry Morton Stanley den Kongo-Freistaat bereist und die Eingeborenen für sie unverständliche Verträge unterschreiben lassen, eine ihn lebenslang quälende Schuld. Seine Reise ins Herz der Finsternis 1903, auf der er im Auftrag der britischen Kolonialbehörde sich mehrenden Gerüchten über Gräueltaten nachging, veränderte sein Leben.

Wie ein investigativer Journalist erforschte Casement das Zwangsarbeitssystem Leopolds II., sammelte Zeugenaussagen, fotografierte von der Nilpferdpeitsche entstellte schwarze Leiber und verfasste ein Dossier, das weltweit Wirkung erzielte. Eine zweite, ebenfalls die Weltöffentlichkeit schockierende Mission führte ihn 1910 in den peruanischen Regenwald bei Iquitos, wo die „Peruvian Amazon Company“ die Untaten Leopolds II. noch übertraf. Auch diese Expedition sollte Casement an den Rand des Wahnsinns führen – aber auch zur Erkenntnis, dass seine Landsleute, die von den Engländern wie ein Kolonialvolk unterdrückten Iren, um ihre Freiheit kämpfen mussten.

Es sind zeitlose Themen, die Vargas Llosa behandelt: die Ausbeutung von Mensch und Natur. Die Möglichkeiten und Grenzen engagierten Schreibens. Der Roman ist gewohnt handlungssatt und geschmeidig erzählt. Er hat aber auch deutliche Schwächen. Das Hin und Her zwischen Nahperspektive im Gefängnis mit pathetischen Dialogen und konventionell-biografischen Vogelschauen auf Casements Reisen führt zu Wiederholungen. Wer glaubt, Literaturnobelpreisträger bräuchten kein Lektorat, wird hier eines Besseren belehrt.

Problematischer ist, dass sich Mario Vargas Llosa, in seinem Frühwerk ein Meister der Vielstimmigkeit, ganz auf den Tunnelblick seines Protagonisten verlässt. Das funktioniert im behutsamen Umgang mit Casements Homosexualität, nicht aber bei dessen sich radikalisierendem Nationalismus, der ihn zu Beginn des Ersten Weltkriegs zur bizarren Idee eines Bündnisses der irischen Unabhängigkeitsbewegung mit dem Deutschen Reich führte. Warum ihn die irischen Kriegsgefangenen, die er nach 1914 in Deutschland für eine Freiwilligenbrigade werben wollte, als Verräter auspfiffen, bleibt nicht nur Casement bis zu seiner Hinrichtung unerklärlich, sondern aufgrund der dominanten Binnenperspektive vermutlich fatalerweise auch vielen Lesern.

Mario Vargas Llosa: Der Traum des Kelten. Roman. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Suhrkamp, Verlag, Berlin 2011. 447 Seiten, 24,90 €.

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