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Martin Honert: Wo die Riesen wohnen

Grusel des Vertrauten: Martin Honert zeigt in der Ausstellung „Kinderkreuzzug“ im Hamburger Bahnhof überdimensionale Skulpturen und reist mit Hilfe banaler Ojekte in die Veragangenheit

Wo der Wackelpudding diffuse Geräusche macht, wo Stühle von innen heraus leuchten und lebensgroße Playmobil-Ritter in die Schlacht ziehen, ist mit einiger Sicherheit Martin Honert am Werk. Vorausgesetzt, die Objekte stehen, wie jetzt in der Ausstellung „Kinderkreuzzug“ im Hamburger Bahnhof, in einem Museum. Hier irritieren Honerts an Riesenspielzeug erinnernde Skulpturen und Installationen nachhaltig, weil sie fern aller Moden am Gegenstand bleiben. Egal ob „Straßenlaterne“, „Haus“ oder „Messdiener“: Der Betrachter bekommt exakt zu sehen, was der Titel verspricht.

Das macht die Arbeit des in Bottrop geborenen Künstlers, der während der achtziger Jahre an der Düsseldorfer Kunstakademie studierte und längst selbst an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden lehrt, erst einmal zugänglicher als die karge Konzeptkost vieler Kollegen. Ein Teil der Sujets knüpft zusätzlich an die kollektive Erinnerung einer Generation plus/minus 1950 an. Honerts runde Glasmosaiken formen eben nicht bloß abstrakte Wellenmuster, sondern bilden zugleich die früheren Sportabzeichen aus dem Schwimmunterricht ab. „Frei,- Fahrten- und Jugendschwimmabzeichen“ (1986) heißt lakonisch jene dreiteilige Arbeit, deren Elemente im Hamburger Bahnhof wie gigantische Schmuckteller an der Wand hängen und doch zur Dimension der Haupthalle passen. Im harten Kontrast dazu steht „Haus“ von 1988. Eine Miniatur, in der nicht einmal ein Zwerg Unterschlupf fände. Andererseits ist das schmucklose, graue Gebäude zu groß, um sich unauffällig in die Landschaft einer Modelleisenbahn zu fügen. Am Ende passt am ehesten das Wort deplatziert – wie so häufig im Honert-Universum, das mit Maßstäblichkeiten ziemlich fahrlässig umgeht.

Aus diesem Widerspruch erwächst die eigentliche Tücke des Werks. So zieht beim „Tisch mit Wackelpudding, Roter Polsterstuhl“ (1983) erst einmal der grün schimmernde, dank eines versteckten Motors immer wieder wackelnde Glibber alle Aufmerksamkeit auf sich. Dann folgt der Stuhl, dessen Polsterung gefährlich rot leuchtet. Doch den eigentlichen Riss durch die Realität, der das gesamte Arrangement entgleisen lässt, leistet sich der Künstler in Gestalt des Tisches, den er fern jeder Norm zuschneiden ließ. Mit einer Person an seiner Resopalplatte wirkt das Möbel hoffnungslos verloren. Mit zwei oder mehr Essern wäre es überfüllt. Dabei wirkt der Tisch, als käme er geradewegs aus den fünfziger Jahren, authentisch und mit Patina versehen wie nach langem, täglichem Gebrauch.

Die Banalität der Objekte ist am Ende pures Lockmittel. Mit ihrer Hilfe reist Martin Honert in die Vergangenheit, zurück in den Speisesaal eines ostwestfälischen Internats mit jenem altmodischen Mobiliar, das formaler Ausgangspunkt für den Wackelpuddingtisch war. Noch weiter reicht die Erinnerung an den „Bürgersteig“ (1998) und die abendlichen Impressionen eines Kindes, das bis zum Anbruch der Dämmerung draußen spielen durfte, während ihm die Gaslaterne an der Straßenecke so endlos hoch erschien, wie sie es in der Installation des Künstlers mit ihren 5,40 Metern auch jetzt noch tut.

Es wäre allerdings zu einfach, die aus der Passform geratenen Dinge allein mit Honerts Kindheit in Verbindung zu bringen. „Für mich ist es wichtig herauszufinden, was weit zurückliegt, aber für mich immer noch Bestand als Bild, als Erinnerung hat“, erklärt der Künstler. Solche Momente reflektieren weit über die eigene Biografie hinaus eine Phase der Sozialisation – in einem Land, das die Abkürzung BRD längst abgestreift hat. In seinem Kern aber wirkt weiter, was sich in der Vergangenheit in das Bewusstsein pflanzen konnte.

Honerts Skulpturen machen diese Orte und Dinge sichtbar und verdichten sie zu konkreten Bildern. Man kann sich in ihrer Gegenwart gruseln wie vor dem „Englischlehrer“ (2010), der aus nicht mehr als Polyurethan, Sand, Glas und Ölfarbe besteht und doch so viel verkappte Bosheit ausstrahlt, dass man sich unvermittelt an die schlimmsten Momente der eigenen Schulzeit erinnert. Der Künstler liefert Vertrautes, wenn er anhand von „Haus“ noch einmal die ästhetische Kapitulation jener Architektur vorführt, wie sie typisch für die Nachkriegszeit ist. Beschädigte Gebäude wurden nach funktionalen Kriterien repariert und wiederaufgebaut, in ihnen manifestiert sich trübe Sachlichkeit weit über das Ruhrgebiet, Honerts Heimat, hinaus.

Seine Installationen lassen sich auch ganz anders lesen. Als Metapher für einen Rückzugsraum weit vor der Adoleszenz, in dem Projektion und Imagination der Wirklichkeit ebenbürtig sind und man sich eigene Geschichte(n) schreibt. Sein „Kinderkreuzzug“ ist exemplarisch für diese von Neugier getriebene Verweigerung der Realität, die alle Fakten ausblenden kann und an die Stelle der historischen Katastrophe einen kindlichen Traum von mutigen Rittern und Luftschlössern in Polyester gießt. Nicht als Flucht, sondern zur Vergewisserung, dass es neben der Tatsachenwelt dynamische Systeme gibt, in denen Fakten anders zu bewerten sind. Wer diese Tür öffnet, muss mit allem rechnen: Staunen, Ängste, Umwerfendes, Fürchterliches.

Wie nah sich Traum und Trauma sein können, weiß Udo Kittelmann aus eigener Anschauung. Als Direktor des Hamburger Bahnhofs hat er diese Einzelausstellung mit gehörigem Aufwand und knapp 30 Leihgaben aus aller Welt realisiert. Als Kittelmann 2005 zum Direktor des Frankfurter Museums für Moderne Kunst ernannt worden war, zog dort eine Privatsammlung ohne große Ankündigung ab, was es dem Haus geliehen hatte; darunter ein knappes Dutzend von Honerts Werken, die der Direktor damals als elementaren Verlust für das Museum empfand. Kittelmann hat später einiges zurückerwerben können und für die aktuelle Ausstellung nun sogar sämtliche wichtigen Werke zusammengebracht. Selbst das „Szenische Modell des Fliegenden Klassenzimmers“, das Martin Honert 1995 für den Deutschen Pavillon der Biennale von Venedig schuf. Die reisenden Schüler sind in Berlin gelandet.

Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50–51, bis 7.4.2013, Di–Fr 10–18 Uhr, Sa 11–20 Uhr, So 11–18 Uhr.

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