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Dass sie sich in ihren Sohn nie einfühlen konnte, sagte sie selbst: die Schweizer Psychologin Alice Miller (1923–2010), Autorin unter anderem von „Das Drama des begabten Kindes“.

© picture alliance / dpa

Martin Millers Buch über seine Mutter Alice: Die Maske der Kinderrechtlerin

Nach außen trat die Psychologin und Autorin Alice Miller für eine einfühlsame und gewaltfreie Erziehung ein, wurde damit zu einem Star der Pädagogik. Der eigene Sohn lernte eine ganz andere Frau kennen. Das Buch, das er, 63-jährig, nun darüber geschrieben hat, ist keine Anklage. Sondern ein Versuch, tief sitzende Traumata zu verstehen.

Von Caroline Fetscher

Zürich, April 1950. Ein Kind, eben auf die Welt gekommen, lässt sich nicht stillen. Das Neugeborene habe ihre Brust „verweigert“, klagt die Mutter später, sie habe sich abgelehnt gefühlt, vom eigenen Kind sei sie gekränkt worden. Kurz nach der Geburt geben die Eltern, angehende Akademiker, den Sohn fort. Zwei Wochen lebt er bei einer Bekannten, die sich auf Kinderpflege kaum versteht. Schließlich erbarmt sich eine Tante und nimmt ihn ein halbes Jahr zu sich.

Als der Sohn sechs ist, wird eine Tochter geboren, ein Kind mit Down-Syndrom. Die entsetzte Mutter beschuldigt den Vater, genetische Risiken in der Familie verschwiegen zu haben. Der Sohn, der lästige „Bettnässer“, kommt jetzt in ein Heim. Dort, auf der Halbinsel Au am Zürichsee, kaum 30 Kilometer von zu Hause entfernt, besuchen die Eltern ihn kein einziges Mal. Selbst dem ersten Schultag bleibt die Mutter fern. Wieder zurück im Elternhaus, erlebt der Achtjährige sich als fremd, als „Ausländer“, denn die Eltern sprechen polnisch untereinander, das er nicht versteht. Vom Vater wird der Junge geschlagen und zu Waschritualen gezwungen, die er als sexualisierte Übergriffe empfindet. Bei Tisch verspottet der Vater den Sohn. In jeder Kinderfrau, zu der der Junge Vertrauen fasst, wittert die eifersüchtige Mutter eine Rivalin und entlässt sie. Mit 17 setzt der Heranwachsende durch, dass er aufs Internat kommt. Reglementiert und katholisch ging es da zu, doch für ihn ist es Erholung vom elterlichen Irrenhaus.

Wie ein Fall aus einem ihrer Bücher

Die Skizze eines tristen Kinderlebens könnte eine Fallvignette in einem der Bücher von Alice Miller (1923–2010) sein, der großen Schweizer Advokatin für Kinderrechte. Millers Bestseller, in 30 Sprachen übersetzt, forderten einen radikalen Paradigmenwechsel der Gesellschaft im Umgang mit Kindern. Eltern, Lehrer, Therapeuten sollten aus Kinderperspektive sehen und fühlen lernen. Vor allem mit ihren ersten Werken, „Das Drama des begabten Kindes“ (1979), „Am Anfang war Erziehung“ (1980) und „Du sollst nicht merken (1981)“, wie alle weiteren bei Suhrkamp erschienen, feierte sie international Erfolge. Kinder, so Millers Credo, sollten nicht länger als „Container für Affektabfälle“ der Erwachsenen dienen.

Alice Miller hatte eine Mission. Es ging ihr darum, die Öffentlichkeit für das Recht der Kinder auf Empathie und gewaltfreie Erziehung zu sensibilisieren, für die seelischen und gesellschaftlichen Schäden durch „Schwarze Pädagogik“ und falsche Tabus in Familien. In einer frühen Sozialisation mit Empathie und ohne Gewalt, so die Kernthese, liegt der Schlüssel für eine friedfertige Gesellschaft; eine These, angelehnt an Vorläufer wie Ellen Key („Das Jahrhundert des Kindes“, 1900) oder Janusz Korcak („Das Recht des Kindes auf Achtung“, 1928).

Nahezu monoman, oft streitsüchtig trat Alice Miller für ihre Causa ein und überwarf sich mit Kollegen, die ihre Ansichten nicht haargenau teilten. So fand sie hunderttausende Leser, die sich in der Kindheit falsch behandelt wussten; der Titel, „Das Drama des begabten Kindes“, ist stehende Rede geworden. Um zu überleben, erklärte sie, erspürt das sensible, das „begabte“ Kind die emotionalen Bedürfnisse der neurotischen Eltern und verleugnet seine eigenen. Abgespalten wirken Trauer und Wut im Unbewussten des Kindes fort; später wird es mit seinem Nachwuchs ähnlich verfahren. Aus Opfern werden Täter, die wieder Opfer hervorbringen, wieder Täter – wofür Alice Miller dichte Passagen voller Fallbeispiele anführte, oft auch von Patienten auf der virtuellen Couch, etwa Hitler und Stalin, Kafka und Paul Klee.

Aber die eingangs zitierte Skizze des Zürcher Kindes stammt nicht aus einem ihrer Werke. Zu finden ist sie in einem erschütternden Bericht, den ihr einziger Sohn, Martin Miller, 63 Jahre alt, jetzt über sein Leben vorlegt – und über eine andere Alice Miller. Er nennt sein schockierendes Buch „Das wahre ,Drama des begabten Kindes’“, Untertitel: „Die Tragödie Alice Millers – wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken“. Der Sohn sucht keine Revanche. Sein Bericht ist nüchtern, ohne ein Gran Pathos, ohne Larmoyanz. Er sucht nach der Biografie der Mutter, schildert die eigene Kindheit und Jugend, erörtert mit der Hilfe eines Traumaexperten Fragen zur transgenerationellen Traumatisierung.

Er spricht von transgenerationellen Traumata: Martin Miller, Sohn von Alice.
Er spricht von transgenerationellen Traumata: Martin Miller, Sohn von Alice.

© Ex-Press

Unter anderem bei Verwandten in Israel und den USA fand Martin Miller mehr heraus über die jüdische Herkunftsfamilie seiner Mutter. Alice Miller kam im Januar 1923 als Alicija Englard in Piortków Trybunalski bei Lodz zur Welt. Ihre chassidische, orthodoxe Familie empfand das Mädchen, eine Leseratte, als einengend. Aufatmen konnte sie, als sie von 1931 bis 1933 bei ihrer liberalen, wohlhabenden Tante Franja Mendelssohn in Berlin lebte, wo sie in Windeseile Deutsch lernte und das Klima der Großstadt genoss, auch die Aufenthalte im Sommerhaus am Wannsee. Aber Alicija musste zurück ins verhasste Polen. Dort haderte das Kind mit einer hartherzigen Mutter, Terror und Verfolgung drängten die Halbwüchsige in eine ungewollte Solidarität mit ihrer jüdischen Familie. Widerstrebend schützte sie Mutter und Schwester, mithilfe falscher Papiere konnten sie untertauchen. Der Vater starb im Ghetto. Dass er kein polnisch, sondern nur jiddisch sprach, hätte ihn überall verraten.

Der Sohn als Projektionsfläche für unbewussten Hass

Dass sie sich in ihren Sohn nie einfühlen konnte, sagte sie selbst: die Schweizer Psychologin Alice Miller (1923–2010), Autorin unter anderem von „Das Drama des begabten Kindes“.
Dass sie sich in ihren Sohn nie einfühlen konnte, sagte sie selbst: die Schweizer Psychologin Alice Miller (1923–2010), Autorin unter anderem von „Das Drama des begabten Kindes“.

© picture alliance / dpa

„Ich musste meine ganze Biografie auslöschen“, hat Alice Miller ihrem erwachsenen Sohn einmal gesagt. Wie in einer Nussschale steckt die ganze „Tragödie Alice Millers“ in diesem Satz. Lakonisch, ohne Triumph über die Tote, nähert sich Miller den Ursachen der Verstrickung von Mutter und Sohn, die zeitweise ungeheuerliche, nahezu psychotische Dimensionen erreichte.

Vom Vorleben seiner Eltern, die nach dem Zweiten Weltkrieg als polnische Stipendiaten in die Schweiz kamen, ahnte der junge Miller wenig. Auch durch den Vater, einen 1999 verstorbenen Soziologen, in dessen katholischem Glauben er aufwuchs, erfuhr er nicht viel. Mit aller Macht einer starken, unerlösten Psyche projizierte Alice Miller ihren unbewusst weiterwütenden Hass auf die eigenen Eltern, ihre Abwehr der Vergangenheit als jüdische Verfolgte auf den Sohn.

Am fatalsten zeigte sich die Dynamik, als der junge Mann, inzwischen selber Therapeut, mit Ende 20 in eine Krise geriet und ihn die Mutter zur Behandlung bei ihrem Guru nötigen wollte, dem Berner „Primärtherapeuten“ Konrad Stettbacher. Der schwor darauf, seine Opfer etwa durch tagelanges Verharren in Dunkelzellen in die Regression zwingen zu können, um „Katharsis“ zu befördern. Verzweifelt willigte Martin Miller 1992 in die Behandlung bei einer Stettbacher-Schülerin ein. Die Tonbandaufzeichnungen der Sitzungen wurden hinter dem Rücken des Patienten an den „Guru“ weitergeleitet, der all das mit Mutter Miller besprach. Ultimativer Verrat. Stettbacher veranlasste Alice Miller sogar, die Approbation ihres „infantilen“ Sohnes zu hintertreiben. „Es war eine Zeit der Verfolgung“, schreibt Martin Miller, „ich bekam Drohbriefe, sie unterstellte mir Lügen, warf mir Versagen und Schlimmeres vor.“ In dieser Hölle war der Sohn nah am Suizid. Seine berühmte Mutter sah ihn als „Monster“.

Die Unfähigkeit, sich in den eigenen Sohn einzufühlen

Martin Miller verklagte Stettbacher und erhielt Recht. Der Guru, der auch Patientinnen sexuell missbraucht haben soll, wurde als Scharlatan entlarvt, und Alice Miller wies den Suhrkamp-Verlag an, die Hymnen auf den Mann aus ihren Büchern zu tilgen. In einem Brief vom 28. Mai 1998 entschuldigte sie sich bei ihrem Sohn, „eine besitzergreifende, hasserfüllte, gefährliche, destruktive Mutter“ habe sie nicht sein wollen. Sie sei nun aber alt genug, diese Wahrheit auszuhalten. „Ich habe mich in so viele Menschen einfühlen können, nur in meinen Sohn konnte ich es nicht.“ Warum, das könne sie nicht erklären. Vielleicht, weil sie sich auch in sich selber als Kind nie wirklich eingefühlt hatte? Weil Projektionen auf den geschiedenen Mann oder den Sohn ihr falsche Genugtuung verschafften? Weil der Ruhm ihre narzisstische Kompensation war?

Mit dem Schisma zwischen privatem Scheitern und öffentlichem Erfolg ist Alice Miller in der Avantgarde der pädagogischen Reformer jedenfalls nicht allein. Jean-Jacques Rousseau gab drei seiner Kinder im Waisenhaus ab, Maria Montessori schickte ihren unehelichen Sohn zu Pflegeeltern, Bruno Bettelheim, Autor der berühmten Studie „Kinder brauchen Märchen“, prügelte Schützlinge in seiner Reformschule und trug den Spitznamen „Benno Brutalheim“. Und die Zustände an der Odenwaldschule zu Zeiten des pädokriminellen Gerold Becker machten erst kürzlich Schlagzeilen.

Die Vermutung drängt sich auf, dass gerade die motiviertesten Anwälte der Kinder aus ihrer eigenen Kindheit extreme Traumata mit sich herumtragen – Erfahrungen, die sie zu ihrer Arbeit besonders befähigen, die sie aber zugleich als Übergepäck „abladen“, vor allem bei denen, die sie am meisten mit dem Eigenen identifizieren: den eigenen Kindern, Schülern, Schützlingen.

Martin Miller sieht das bei seiner Mutter ähnlich, betont aber, dass er die ersten drei Werke seiner Mutter weiter für wertvoll hält. In ihrem zweiten Buch „Am Anfang war Erziehung“ bedankte sich Alice Miller bei Siegfried Unseld, dem Verleger, der an sie glaubte, und bei ihrem Sohn, der sie durch „den reichen und klaren Ausdruck seiner Erlebnisse“ inspiriert habe. Dass es auch solche Phasen zwischen Mutter und Sohn gab, scheint ein Trost zu sein. In Martin Millers Buch bleibt von diesem Trost gleichwohl wenig Rest.

Martin Miller: "Das wahre ,Drama des begabten Kindes'. Die Tragödie Alice Millers – wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken." Kreuz-Verlag, Freiburg, 2013. 176 Seiten, 17,99 €. Martin Miller stellt sein Buch am Do, 19.9., um 20 Uhr im Theater Aufbau Kreuzberg vor, Aufbau-Haus, Prinzenstr. 85 F.

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