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Schüchterne Jeanne d'Arc. Die junge Biologiestudentin Xia schwenkte 1989 die Fahne für mehr Meinungsfreiheit und Demokratie.

© Harald Schmitt Photo

Massaker von Tiananmen: „Wer fotografiert, wird erschossen“

Am Dienstag jährt sich das Massaker von Peking zum 30. Mal. Der Fotograf Harald Schmitt erinnert sich.

Von Julia Prosinger

Eigentlich wollten meine Frau Annette und ich Urlaub in China machen, ich sollte vorher noch zwei Filmregisseure, die beim Festival in Cannes aufgefallen waren, für den „Stern“ fotografieren. Doch als wir Peking am 24. Mai 1989 erreichten, hatten die beiden keine Zeit. Es gab plötzlich Wichtigeres. Auch für mich.

Schon seit Wochen hatten sich Studenten aus dem ganzen Land auf dem Platz des Himmlischen Friedens versammelt. Sie waren aus Hörsälen und Wohnheimen aufs Pflaster gezogen, schliefen in Zelten, viele waren im Hungerstreik. Für die anderen kochten die Pekinger Bevölkerung und einige Hotels. Professoren und Arbeiter unterstützten sie. Meine Regisseure natürlich auch. Ich fuhr sofort hin.

Ich kann kein Chinesisch, aber auf den Transparenten las ich: 1789. Ich hatte sofort große Sympathien für die Leute. Von den wenigen, die Englisch sprachen, erfuhr ich, dass sie ursprünglich wegen des Todes von Hu Yaobang demonstriert hatten, der in Ungnade gefallene Chef der Kommunistischen Partei. Ein Reformer, an den viele ihre Hoffnung geknüpft hatten. Unter ihm hatte sich der Markt geöffnet, es gab erste Anzeichen von Liberalisierung. Nun wollten sie seine Arbeit fortsetzen: Vetternwirtschaft abschaffen, Meinungsfreiheit und Rechtstaatlichkeit einführen, korrupte Parteikader bestrafen.

Hunderttausende hatten sich ihnen angeschlossen. Manche schrieben von einer Million friedlicher Demonstranten auf dem Tiananmen-Platz. Von einem „Frühling der Demokratie“ war die Rede.

Hoffnung auf Gorbatschow

Ich traf meinen Kollegen, den Moskau-Korrespondenten Peter Bier, der gekommen war, um Michail Gorbatschow auf seinem Staatsbesuch zu begleiten. Gorbatschow sollte auf dem Platz empfangen werden, aber wegen der Demonstrationen hatte die Kommunistische Partei Chinas die Zeremonie an den Flugplatz verlegt. Die Studenten hatten gehofft, er könne positiv auf die Regierung einwirken oder diese könnte ihren Forderungen nachgeben, damit sie den Platz räumten. Nichts davon war geschehen.

Am Abend nach Gorbatschows Abreise hatte die chinesische Regierung den Kriegszustand ausgerufen. Als ich nun wenige Tage danach zu den Demonstranten stieß, schien mir niemand Angst zu haben, dass die Lage eskalieren könnte. Ich hatte bereits in Vietnam und Kambodscha fotografiert und auch auf mich wirkte die Situation wenig brenzlig.

Meine Frau Annette schrieb in ihr blaues Tagebuch: „Die Soldaten lassen die Leute mit ihren Kalaschnikows spielen.“ Die jahrelange Propaganda vom Volk, das seine Armee liebt, von der Armee, die ihr Volk liebt, schien gewirkt zu haben. Wann immer die – oft noch sehr jungen – Soldaten versuchten, weiter auf den Platz vorzudringen, wurden sie von der Bevölkerung durch Gespräche überzeugt, umzudrehen. Die Demonstranten hatten sich auf Polizeiknüppel eingestellt, auf Untersuchungshaft – aber nicht auf das, was kam. Auf dem Platz war noch nie zuvor geschossen worden.

Chinesische Jeanne d'Arc

Ich verbrachte Tage auf dem Tiananmen. Meine Frau schrieb: „Peking ist ziemlich öde“. Tagsüber hielten die Anführer der Bewegung Reden, nachts sangen die Studenten die Nationalhymne, die Internationale, Beethovens 5. Die hygienischen Zustände waren schlecht geworden, es stank. Ich fotografierte die junge Biologiestudentin Xia, mit der Fahne in der Hand stand sie da wie Jeanne d’Arc – ohne martialische Rüstung. Morgens machten Wasserflaschen und Weißbrot die Runde.

Am 3. Juni leerte sich der Platz deutlich. Viele machten sich auf in Richtung Heimat, zu den Zügen. Wir waren uns sicher, die Sache ist vorbei. Meine Redaktion sagte mir, ich könne nun meinen Urlaub beginnen. Auch die meisten Journalisten reisten ab, Annette und ich flogen nach Shanghai, gingen spazieren, essen. Am Morgen des 4. Juni erreichte mich der Bildredakteur des „Stern“. Es habe in der Nacht Tote gegeben, ich solle sofort zurück nach Peking. Mit der ersten Maschine flogen wir in die Hauptstadt.

Schüsse und Brände

Schon am Flughafen merkten wir, dass nun alles anders war. Taxifahrer weigerten sich, uns zum Hotel zu bringen. „Peng, peng“ war alles, was wir verstanden. Einer transportierte uns schließlich, für den 20fachen Preis. Wir warfen unser Gepäck im Hotel ab und liefen zum Platz, ein Passant stellte sich mir entgegen und rief: „Sie müssen der Welt erzählen, was hier geschieht. Es gibt 1000 Tote.“ Ich wiegelte ab, die Redaktion hatte nur von acht gesprochen. Andere mischten sich in unser Gespräch, wir sollten der Welt von den Schweinereien berichten.

Heute schätzen Menschenrechtsorganisationen, dass die Armee am 4. Juni und in den Tagen danach etwa 3000 Menschen tötete. Ich denke, es waren eher ein paar Hundert, zumindest in Peking. Ich hörte, dass die blutigen Zusammenstöße inzwischen auch auf andere Teile der Republik übergegangen waren.

Uns bot sich ein Bild der Verwüstung. Ausgebrannte Omnibusse, Lkws deren Ladung auf die Straße gekippt war, Abfallkörbe und überfahrene Räder lagen herum. Die Luft war tropisch schwül, aus manchen Straßen rauchte es. Menschen suchten nach ihren Angehörigen, einige hatten ihre Kinder dabei. Ich lief mit der Bevölkerung soweit über den Platz, wie es nur ging, bis zum Kaiserpalast. Da knallten plötzlich Schüsse, im Wegrennen machte ich ein unscharfes Bild mit meiner Nikon – ich glaube, sie schossen nur in die Luft.

Verletzte auf Rikschas

Was mich befremdete: Ich konnte keine anderen Journalisten sehen. Waren sie alle verhaftet worden? Mir war mulmig zumute. Erst später begegnete mir eine französische Kollegin, die die Nacht auf dem Platz verbracht hatte und jetzt Passanten interviewte. Ich erfuhr auch, dass sich ein paar Kollegen auf der anderen Seite des Platzes befanden, aber nicht durchkamen, da die Volksbefreiungsarmee wichtige strategische Punkte besetzt hatte. Zum Beispiel die Kreuzung an der Chang’an Avenue, die von unserem Hotel zum Tiananmen führt.

Ich sah Verletze, die auf Rikschas transportiert wurden, die Armee ließ keine Krankenwagen mehr durch. Die Französin erzählte mir von einem Raum voller Toter im nächsten Krankenhaus. Annette begleitete mich dorthin, ich gab ihr meine Filme, für den Fall, dass ich verhaftet würde und den Auftrag sie zur Fotoagentur Reuters zu bringen.

Von dort konnte man sie nach Hamburg übertragen. Annette kommt aus der DDR, deshalb erkannte sie die Geheimdienstler gleich, die uns auf der Straße taxierten, sich unsere Gesichter merkten. Im Hospital kam ich ohne Übersetzer nicht weiter. Bis heute weiß ich nicht, ob es besagten Raum überhaupt gab. Vor den Türen standen die Kranken, sie hatten ihre Betten für die Schwerverletzen geräumt.

Der Fotograf. Harald Schmitt, 71, fotografiert noch immer weltweit.
Der Fotograf. Harald Schmitt, 71, fotografiert noch immer weltweit.

© Ladan Rezaeian

Abends im Hotel hatten wir Ausgangssperre. Vom Fenster aus konnte ich beobachten, wie sich die Panzer gegeneinander stellten. Teile der Armee weigerten sich weiter gegen das Volk vorzugehen. Im Fernsehen hieß es: „Wer fotografiert, wird erschossen.“ Nachts fuhren die Panzer im Schritttempo unter unserem Fenster vorbei. Es war gespenstisch. Einmal krachten Schüsse so nah neben meinem Ohr, dass ich mich hinters Bett warf. Ich lugte hinterm Vorhang hervor. Sie hatten einen vom Rad geschossen, der sich nicht an die Ausgangssperre gehalten hatte.

Die folgenden Tage verschwimmen in meiner Erinnerung. Ich weiß noch, dass man uns in den hinteren Teil des Hotels, mit Blick in den Garten, umquartierte. Annette schrieb: „Der Strom von Panzern, Kettenfahrzeugen und Mannschaftswagen reißt nicht ab.“ Wir hatten jetzt einen unerschrockenen Fahrer mit abstehenden Ohren, der uns überallhin brachte.

Wir besuchten die Deutsche Botschaft, wo Touristen Zuflucht gesucht hatten und Sonderflüge der Lufthansa forderten. Die Toiletten waren schon verstopft. Ich riet Annette abzureisen, aber sie wollte nicht. Es gab auch keine Flüge mehr. Sie schrieb in ihr Tagebuch: „Nachts fährt ein Lautsprecherwagen durchs Botschaftsviertel. Die Leute sollen keine Angst vor den Soldaten haben, wurde da durchgesagt. Das ist mehr als lächerlich, wenn abends wieder welche angeschossen werden.“

Ein Funke reicht zum Flächenbrand

Ich traf einen schwer verletzten Professor, der unbedingt zurück auf die Straße wollte, um zu sehen wie es den Menschen erging. Ich traf auch die Zwillinge Peter und David Turnley, die viele der weltberühmten Bilder von Tiananmen machten. Aber keiner von uns wagte es, weiter zu fotografieren. Alle paar Meter standen blutjunge Soldaten in den Straßen postiert und wir malten uns aus, was geschehen würde.

Ein Soldat würde die Waffe heben, Pekinger würden versuchen, ihn zu stoppen, aus Verzweiflung würde er schießen und damit einen Flächenbrand im ganzen Land auslösen. Wir hatten das Gefühl, dass ein Funke reichen würde, so explosiv war die Stimmung.

Wir wechselten das Hotel. Dort spielte abends eine philippinische Band „La Cucaracha“. Draußen knallten Schüsse, die Band stoppte, die Kellner räumten die Drinks von den Tischen, Licht aus, wir warfen uns zu Boden, es wurde ruhig, Licht an, die Kellner stellten die Drinks zurück, die Band spielte „La Cucaracha“. Wie im Kino.

Im Fernsehen brachten sie nun Bilder in Dauerschleife, die im Ausland zu sehen waren. Ab und zu stoppte der Beitrag. „Wer kennt diese Person?“ Die Kommunistische Partei rief dazu auf, die Aufständischen, sollte man sie erkennen, zu denunzieren. Ich begriff: Unsere Berichterstattung könnte die Demonstranten in Schwierigkeiten bringen. Nachts ballerten die Panzer. Annette schrieb: „Man kann sich an die Schießereien nicht gewöhnen“.

Ich wollte die Studentin wiederfinden

Bald gab es nichts mehr zu trinken. Journalisten wurden verhaftet. Es war Zeit, zu gehen. Annette und ich machten dann doch noch Urlaub. In Thailand. Ich hatte meine Pflicht getan.

Seitdem habe ich oft daran gedacht, die junge Studentin mit der Fahne wiederzufinden. Oder einen anderen von meinen Bildern – wenn sie denn noch leben. Doch ich weiß, dass ich sie damit in Gefahr bringen würde. Was vor 30 Jahren in China geschehen ist, die größte Erhebung gegen die autokratische Herrschaft der KP, das soll bis heute niemand erfahren.

In den Geschichtsbüchern kommt das Jahr 1989 nicht vor, zum Jahrestag jetzt haben die Zensoren Wikipedia gesperrt. Viele junge Chinesen haben wohl noch nie von den Ereignissen gehört. (Am 4. Juni, 17 Uhr, erzählt der Fotograf an der TU Berlin mehr zu den Umständen seiner Recherche 1989 in Peking)

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