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Kultur: Matenadaran! Swartnoz! Etschmiadsin!

Andrej Bitows „Armenische Lektionen“ waren schon 1969 ungeheuer subjektiv

Von Aureliana Sorrento

Andrej Bitows „Armenische Lektionen“ sind ein zeitgeschichtliches Dokument. Im Auftrag der sowjetischen Literaturzeitschrift „Druschba narodow“ (Völkerfreundschaft) brachte Bitow seine Eindrücke von einer zehntägigen Armenien-Reise 1967 zu Papier. Als sie nach der üblichen Behandlung durch die Zensur 1969 zum ersten Mal erschienen, konnten es die sowjetischen Leser als unerhört, gar revolutionär empfinden, dass der Autor einer unverhohlen subjektiven Sichtweise huldigte, sich über die Tabus der staatstragenden Geschichtsschreibung hinwegsetzte und gewohnte Genregrenzen übertrat.

Die „Armenischen Lektionen“ fanden nicht nur in Russland Beachtung; 1975 brachte Volk und Welt die erste deutsche Übersetzung heraus. Liest man Bitows Buch im Jahre 2002 in der Neuübersetzung von Rosemarie Tietze, kann man sich jedoch der Frage nicht erwehren, ob das Original der Mühe einer zweiten Übertragung wert war. Informationen über das heutige Armenien sind darin selbstverständlich nicht enthalten, aber auch kaum welche zu Historie, Land und Leuten.

Man liest, dass die Armenier ihr Alphabet über anderthalb Jahrtausende unverändert gelassen haben, und dass sie auf eine Jahrtausende alte Geschichte stolz zurückblicken können, der gegenüber sich die russische „wie ein spärliches Wäldchen“ ausnimmt. Dass die Christianisierung Armeniens im 4. Jahrhundert erfolgte, während Russland noch im seligen Heidentum weilte. Dass Anfang des 20. Jahrhunderts die Armenier zweimal von den Türken massakriert wurden – dem Thema widmet Bitow ein ganzes Kapitel, in dem er vor allem notiert, mit welchen Gefühlen er von einem Buch zum Thema abschreibt. Die „Armenische Lektionen“ sind nämlich kein Buch über Armenien, sondern eins über Andrej Bitow in Armenien. Ein dreißigjähriger Autor, der von einer Redaktion nach Jerewan geschickt wird, damit er nach kurzem Aufenthalt eine „lyrisch bewegte Reportage über den zeitgenössischen Städtebau“ schreibt. Um diese Aufgabe zu erfüllen, führt er ein – ausführlich protokolliertes – Interview mit einem hohen Beamten der Stadt Jerewan, schaut sich die neu errichteten Stadtviertel an, lässt sich von der zeitgenössischen Architektur nicht sonderlich rühren, und schwärmt von älteren Höfen, die aus einem „Chaos von Anbauten, Sackgässchen, Bäumen, Licht und Schatten“ bestehen. Was diese Jerewaner Höfe von allen anderen alten Höfen aller anderen Städte der alten Welt unterscheidet? „Es gibt Dinge, von denen man absolut nicht sagen kann, dass man sie zum ersten Mal sieht – man hat sie im Blut.“

Bitow ist in Armenien ein Fremder. Der Landessprache nicht mächtig, der Sitten unkundig, tappt er im Lichtermeer des Südens im Dunkeln. Wird von gastfreundlichen Freunden dahin und dorthin geführt, sieht nichts, versteht nichts. Manchmal gibt er sogar zu, dass ihm der Schlüssel fehlt zur Entzifferung der Fremde. Aber flugs schlägt die Unsicherheit in Übermut um, das Unverständnis in Begeisterung. Der verzückte Blinde wähnt sich als Hellseher, ergießt sich in Hymnen und biblischen Lobgesängen. Vielleicht weil Noahs Arche am Berg Ararat, Armeniens Wahrzeichen, strandete, kommt ihm der Tonfall des Propheten am passendsten vor.

Freilich darf sich der Leser nicht fragen, was es mit den Gegenständen seiner Bewunderung auf sich hat: Matenadaran, Swartnoz, Etschmiadsin, der Tscharenz-Bogen. Wer Bitow liest, muss sich mit dessen Ekstasen begnügen und erleichtert seufzen, wenn er endlich wieder in Russland gelandet ist. Dann heißt es: „Zu Hause! Gottseidank! Sogar betrinken kann man sich nur in der Heimat!“ Jawohl, so ist es. Und so soll es bleiben.

Andrej Bitow: Armenische Lektionen. Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2002, 234 Seiten, 18,90 €.

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