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Kultur: Maulwurf im Steingarten

Ein Gegner jeder Form von Macht: zum 100. Geburtstag des Dichters Günter Eich

Ein Wunsch Günter Eichs musste unerfüllt bleiben: ihn nicht nach dem Geschriebenen zu beurteilen, sondern nach dem noch zu Schreibenden. Das vorhandene Werk, so seine Begründung, sei dem Autor oft „ein Ärgernis“. Mit Bleistift hatte Eich diesen Wunsch auf den Briefbogen eines Hotels im japanischen Kyoto notiert. Man schrieb das Jahr 1962, und der Dichter war auf einer Lesereise, die ihn über Indien, Thailand, Japan und Kanada bis in die USA führte.

Im Gepäck hatte er das gedruckt Vorliegende, das schon Literaturgeschichte war: vier Gedichtbände und mehrere Bücher, die seine Hörspielarbeiten versammelten. Sein Gedicht „Inventur“ gehörte zum Kanon deutscher Lyrik und war verankert im Schulbuch unter dem Schlagwort „Kahlschlagpoesie“. Wer damals über den Rang des zeitgenössischen Hörspiels referierte, begann mit Eichs legendären „Träumen“ und beschwor „Die Brandung vor Setúbal“. Die Wendung „Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!“ war so sprichwörtlich geworden wie der Vers „Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume!“ aus den „Botschaften des Regens“ kalenderblattwürdig. Alles ein „Ärgernis“? Wer Koketterie vermutet, verkennt Eichs Uneitelkeit. Oder dachte Eich an jenen Teil seines Werkes, der zwischen 1933 und 1940 entstanden war und vornehmlich Rundfunkbeiträge umfasste, die das Märkisch-Regionale und das heimatliche Gemüt bedient hatten? Oder an jenes Hörspiel, das sich unter dem Titel „Rebellion in der Goldstadt“ (1940) für die nationalsozialistische Anti-England-Politik verwenden ließ?

Als Axel Vieregg, dem wir eine sorgsame Werkausgabe verdanken, Anfang der neunziger Jahre diesen Werkteil, verbunden mit biografischen Recherchen, aufarbeitete, griff eine fragwürdige Lust zur Demontage Günter Eichs um sich. Denunziert wurde unter der Hand und im gleichen Zuge Eichs politische Konsequenz nach 1945, sein Einsatz gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik, sein Nein zur intendierten Atombewaffnung und sein Plädoyer für eine intellektuelle Opposition. Eine fast abgeschlossene Briefausgabe (Eich war ein umwerfender Briefschreiber!) wurde storniert, sein Verlag rückte ihn in die zweite, dritte Reihe.

Zurück in das Jahr 1962. Die Nachwelt kann, was den Zeitgenossen verwehrt bleiben musste. Sie kennt, was noch zu schreiben war. „Man muss“, hatte Eich im März 1961 an einen Schriftstellerkollegen geschrieben, „hin und wieder von vorn anfangen, um weiterzukommen“. Die Reisen, die er zu Beginn der sechziger Jahre unternahm, glichen Weltreisen. Weltfluchten waren sie nicht, eher Vorspiel und Spiegel eines Neubeginns. Auftakt war Eichs Rede anlässlich der Entgegennahme des Büchner-Preises 1959 gewesen. Mit leiser, unbeirrbarer Stimme hatte er ein Plädoyer für eine Dichtung in Gegnerschaft zu jeder Macht abgelegt. Und er hatte sich dabei zu seinen natürlichen Bundesgenossen bekannt: „die Einzelgänger und Außenseiter, die Ketzer in Politik und Religion, die Kämpfer auf verlorenem Posten, die Narren, die Untüchtigen“. Wer das für Sonntagsrhetorik gehalten hatte, wurde eines anderen belehrt. Es entstanden zwei Gedichtbände – „Zu den Akten“ (1964) und „Anlässe und Steingärten“ (1966) –, in denen Eich seine Lyrik des zurückliegenden Jahrzehnts resümierte und sie auf fast programmatische Weise in Widmungs- und Gelegenheitspoesie überführte. Es galt ein Jetzt, es galt ein Gegenüber, das im Sprechen zu finden war. „Endlich die Türen verschlossen, / die Hähne auf Null gedreht, / Asche im Ofen, sonst keine Reste,/wir können gehen“, heißt es in „Gemischte Route“.

Gebeten wurde, die Abschiede „unauffällig zu begehen“ („Elfenbein“). Die Person, die spricht, verabschiedete sich unaufgeregt von einer Sprache des Einverständnisses: mit der Natur, der Schöpfung, dem Staat. Ihr ist die eigene Wortwelt nicht geheuer. Sie weiß, dass die Schuld des Seins hier ihren letzten und eigentlichen Ort hat: auch die des eigenen Lebens. Der einzige Schutz, der gewährt wird, er kommt von der kleinen Tochter, die ein Haus baut aus Bananen und Wachstuch: „Da bleibe ich, / da erwarte ich alles, Scrabble und Atemnot, /Labskaus und jedes /andre Gericht, /auch das jüngste.“

Nur noch wenige Hörtexte waren zu schreiben. Eich experimentierte, und mit „Man bittet zu läuten“ gelang ihm Atemberaubendes. Im Gerede eines Pförtners, der ein Taubstummenheim beaufsichtigt, ließ er jenen Normalbürger Sprachgestalt gewinnen, der unter seinem Kittel bereits das Henkersbeil trug, um dessen legalen Gebrauch er sich bewarb. Und zu dem 1962 noch Ungeschriebenen gehörten endlich jene Prosagebilde, für die Eich einen neuen Gattungsnamen fand, den er sich von Ilse Aichinger, seiner Frau und Gefährtin, auslieh: Maulwürfe.

In ihnen vermischte sich Melancholie mit Anarchie, Nonsense mit Sinnstiftung, Absurdität mit Absicht. „Viele meiner Gedichte“, heißt es da, „hätte ich mir sparen können, ich hätte jetzt ein Kapital, könnte so ungereimt leben wie ich wollte.“ Dass die Kritikermacht Reich-Ranicki diesen Texten Senilität statt Sensibilität anlastete, hat nie gegen sie gesprochen.

„Wieso“, fragte Eich den Dichter und Freund Rainer Brambach im August 1961, „sind Vers und Prosa so ungesund? Sollen wir zur Malerei übergehen?“ Nein, diesen Ausweg hat Eich nicht gesucht, als sein Leben zur Krankheit wurde. Er unterließ es, den Wunsch von 1962 zu erneuern, obwohl er ihm vielleicht auf der Zunge lag. Die indes schwätzte zum Ende hin wieder in der Sprache der Kindheit, berlinisch, märkisch.

Dabei hatte er Lebus, die ehemalige Bischofsstadt im Südosten des Landkreises Märkisch Oderland, wo er am 1. Februar 1907 geboren wurde, zum Zeitpunkt seines Todes im Dezember 1972 längst gegen Salzburg getauscht. „Die Tröstungen“, lautet ein Vers in dem Gedicht „Es ist gesorgt“, das schon 1955 entstand, „sind versteckt.“

Zum 100. Geburtstag von Günter Eich sind im Suhrkamp Verlag „Sämtliche Gedichte“ in einem Band erschienen (652 Seiten, 18,80 €). Der vierstündige Radioabend „Günter Eich 100 – Ich bin gar nicht gegen die Realität, im Gegenteil ...“ läuft heute ab 20.05 Uhr in allen Kulturprogrammen der ARD, in Berlin im RBB-Kulturradio.

Roland Berbig

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