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Max-Ernst-Retrospektive in Wien: Universum des Unbewussten

Max Ernst gilt als Bildlieferant der Psychoanalyse. Aber ausgerechnet in Wien war sein Werk bisher nicht zu sehen. Jetzt zeigt die Albertina eine große Retrospektive. Sie ist nach dem Fälscherskandal eine Rehabilitation für den Kurator Werner Spies.

Genau 52 Kompartimente zählt das Gemälde. Genauso viele Jahre war Max Ernst alt, als er 1943 die Summe seines künstlerischen Lebens malte, addiert in großen und kleinen Feldern auf riesiger Leinwand. In den einzelnen Kästen tauchen sämtliche Techniken auf, die er im Laufe der Zeit entwickelte – von der Frottage bis zum Oszillieren, einer Vorform des Drip-Painting, das Jackson Pollock später den Durchbruch bescherte. Auch die Motive seiner Laufbahn kehren wieder: die geheimnisvollen Wälder, die Sternenbilder, der Zaubervogel Loplop als sein Alter Ego. Mittendrin sind markante Bauwerke seiner Lebensstationen platziert, der Pariser Eiffelturm und das New Yorker Empire State Building.

1943 zieht Max Ernst Bilanz, denn er steht vor dem nächsten Bruch seines Lebens. Diesmal wechselt er zwar nicht das Land, den Kontinent, doch wieder verlässt er eine Frau, um neu zu beginnen. Die Scheidung von Peggy Guggenheim ist vollzogen, der Neuanfang mit der jungen Malerin Dorothea Tanning gemacht. Mit ihr verbringt er den Sommer in den Bergen Arizonas, wo sie in Sedona ihren neuen Lebensort gründen werden. „Vox Angelica“, so der rätselhafte Titel des programmatischen Gemäldes, gleicht einem Hochseekoffer, in dessen verschiedenen Fächern der Künstler das Gepäck seines Lebensweges sortiert, um es sichten und beizeiten wieder herausholen zu können.

Ähnlich funktioniert auch eine Retrospektive. Sie zieht die Schubladen einer Karriere auf, sucht nach ordnenden Prinzipien, um die Entwicklung im Rückblick zu erklären. Max Ernst wusste sehr genau, dass sein Resümee-Werk später einmal unter diesen Aspekten betrachtet werden würde. Vielleicht tauchen deshalb an zahlreichen Stellen Zirkel und Vermessungsgeräte auf, von denen aber nicht klar wird, was sie erfassen sollen. Die Spitzen der Instrumente stechen tief in nächtliches Schwarz.

Die Wiener Albertina versucht es trotzdem und öffnet all die Fächer für einen fulminanten Überblick, erstaunlicherweise die erste Retrospektive von Max Ernst in Österreich. Das verwundert umso mehr, als er doch als Maler des Unbewussten gilt und damit als Bildlieferant par excellence der Psychoanalyse, die mit Freud in Wien ihren Anfang nahm. 180 Werke wurden zusammengetragen, aus allen großen Museen und vielen Privatsammlungen. Es ist nicht nur die Feier eines Jahrhundertkünstlers, der sich immer wieder neu erfand, sondern auch die Wiederkehr seines größten Herolds, Werner Spies. Lange vor dem Skandal um die sieben Beltracchi-Fälschungen, für die der Kunsthistoriker Gutachten geliefert hatte, war die Ausstellung als Teil einer Serie mit Werken der Baltliner-Sammlung geplant. Nachdem bereits Magritte zu sehen war, soll nach Ernst in zwei Jahren Miró folgen, ebenfalls mit Spies als Kurator. So viel stellt Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder jedoch gleich klar: Zu sehen sind nur eindeutig zugeschriebene Werke; diskutiert wie jüngst bei den Michelangelo-Zeichnungen wird diesmal nicht.

Für Werner Spies ist es trotzdem eine Rehabilitierung, denn die Ausstellung kam zustande durch das ihm von den Sammlern wiedergeschenkte Vertrauen, wie er sagt. Unter den Leihgebern befinden sich auch solche, die irrtümlich Fälschungen erwarben. Für den Gescholtenen – schließlich nahm er damals Provision – ist es ein Triumph. Ähnlich wie in Spies’ Memoiren aus dem vergangenen Jahr, in denen die Künstlerbegegnungen mit Picasso, Ernst, Richter dominieren und die Beltracchi-Affäre nur wenige Seiten einnimmt, ist die Welt wieder ins Lot gebracht. Wie im Werk des Künstlers scheint auch im Leben seines besten Kenners das erschütterte Ordnungssystem wieder geradegerückt. Alles befindet sich im zugewiesenen Fach, die Fälschungen sind aussortiert. Der Hochseekoffer ist gepackt, der Ausstellungsbetrieb kann erneut Fahrt aufnehmen. An einer Größe wie Max Ernst rühren solche Unbilden ohnehin nicht.

Welchen Rang er in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts einnimmt, zeigt die Ausstellung eindrucksvoll. Ernst war ein Wanderer durch Zeiten, Länder, Kunstformen. Frei von Zwängen wählte er sich immer wieder neue Methoden, wechselte das Rüstzeug. Diese Ungebundenheit zeigt sich schon in den ersten Bildern des jungen Autodidakten, die in seiner Heimatstadt Brühl entstehen. Er macht Anleihen bei Macke, Klee, Chagall und formt doch seine eigene Bilderwelt daraus, die einen kritischen Blick auf die enge bürgerliche Umgebung verrät.

„Hut in der Hand, Hut auf dem Kopf“ heißt sein frühestes Bild von 1913. Der Mann lüpft die Melone, unter der ein zweiter Boulderhat erscheint; die Frau hebt noch unentschieden die Hand zur Krempe. Max Ernst aber hat sich schon entschieden – er geht, wenn auch vorerst nur nach Köln, wo er 1919 eine Dada-Gruppe gründet. Im Unterschied zu den dezidiert politischen Berliner Dadaisten, John Heartfield, George Grosz, Hannah Höch, die den Staat und seine Repräsentanten attackieren, entwickelt Dada-Max mit seinen Collagen ganze Kosmen, deren Versatzstücke er aus Enzyklopädien, Zeitschriften, Häkelanleitungen bezieht.

Max Ernst kombiniert die Elemente mit einer solchen Raffinesse, dass der Betrachter nur den Wahnwitz am Ende sieht, dem Weg dorthin aber nicht folgen kann. „Das perfekte Verbrechen“ nennt Spies diese Technik der spurenlosen Collage. Kritik an Krieg und Gesellschaft übt auch Ernst, wenn er eine Schöne auf ein Sofa legt, deren Körper mit einem Muster aus Kanülen bedeckt ist, und das Bild böse „Die Leimbereitung aus Knochen“ (1921) nennt. Sein Zorn ist poetisch verklausuliert.

Lange hält es den Unruhegeist nicht bei Frau und Kind in Köln. Ernst geht nach Paris, stößt zu den Surrealisten, die unter ihrem Begründer André Breton noch als literarische Bewegung gelten. Mit ihm gewinnt die Gruppe einen genuinen Maler, der die Prinzipien der Collage auf Malerei überträgt. Die Idee der Schaffung einer zweiten, fantastischen Wirklichkeit durch Zusammenprall verschiedener Realitäten wird bei ihm bildhaft. Hinter den surrealen Motiven steckt immer auch biografischer Bezug wie etwa in dem großformatigen Gemälde „Beim ersten klaren Wort“ (1923), das eine Damenhand zeigt, die durch eine Wandöffnung greift. Zeige- und Mittelfinger kreuzen sich, als wären es Frauenbeine. Ernst spielt damit auf die Menage à trois mit Gala und Paul Eluard an, bei denen er zunächst in Paris Unterschlupf fand.

Wie bei jedem Ortswechsel stößt er auch in Paris in künstlerisches Neuland vor, indem er die Frottage entdeckt. Die markante Maserung des Holzbodens in einem Hotel hatte ihn neue Sphären entdecken lassen, die er durchgepaust in Bilder übertrug. Die écriture automatique, Bretons Credo, fand damit Einzug in die Malerei. Diese scheinbar durch höhere Mächte entstandene Kunst befördert jedoch kein besseres Sein nach oben, sondern offenbart nur noch mehr die Ängste vor einem sich erneut abzeichnenden Krieg. Ernst malt Wälder, Horden, Dschungelbilder, die beklemmend sind, denn sie zeigen eine Lebenswelt, die sowohl vor Entstehung der Zivilisation als auch nach einem alles zerstörenden Krieg angesiedelt sein könnte. Seine verlassenen, umwucherten Metropolen bescheint nur noch ein kalter Mond. Mit jedem Bild der Städtereihe friert der Betrachter mehr.

Wieder wird es für Ernst Zeit zu gehen. 1941 kann er sich nach zweimaliger Internierung gerade noch ins amerikanische Exil retten. Und nochmals springt der Funke über, beginnt er künstlerisch von vorn. Zur Inspiration wird ihm eine tropfende Farbdose, die er über die flache Leinwand pendeln und euklidische Tropfspuren machen lässt. Das von ihm Oszillation genannte Verfahren öffnet Jackson Pollock mit dem Drip-Painting die Tür zu einer neuen Dimension. Für Ernst war die Methode jedoch nur eine Möglichkeit von vielen, nur ein Fach in seinem Künstlerkoffer auf der großen Reise. Dass er ohnehin nur seinen eigenen Visionen nachhing, egal wo er sich gerade aufhielt, zeigt kongenial eine Filmaufnahme Peter Schamonis von ihm in den Straßen New Yorks. In den Händen trägt der Künstler eine surrealistische Skulptur, tänzelnd läuft er den Bürgersteig entlang an zwei rauchenden Arbeitern vorbei, die über den komischen Vogel zu lachen beginnen. Auch Max Ernst hatte offensichtlich seinen Spaß daran.

62-jährig kehrt er 1953 mit seiner vierten Frau Dorothea Tanning nach Europa zurück, wo er langsam die großen Ehrungen erfährt: Retrospektiven, Einladungen zur Documenta und nach Venedig, Orden, Preise. Das Paar lässt sich auf einer Landzunge zwischen der Loire und der Indre nieder, die als Garten Frankreichs bezeichnet wird. Max Ernst hatte seine ganz eigene Vorstellung von diesem Flecken. In sein Landschaftsbild collagiert er Alexandre Cabanels „Geburt der Venus“ hinein, deren erogene Zonen er als einziges nicht übermalt. Unter den Hügeln der Provinz Touraine verbarg sich für die Künstler wieder eine andere Wirklichkeit.

Albertina Wien, bis 5. Mai. Katalog im Verlag Hatje Cantz, 29 €.

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