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Maxim Gorki Theater: Wie war das noch mit dem Missbrauch?

Schwank mit Krisenkommentaren: Jan Bosse aktualisiert Kleists „Zerbrochnen Krug“ mit Edgar Selge am Maxim Gorki Theater.

Die Krise hat in Huisum flächendeckend zugeschlagen: Der Gerichtssaal ist dem kommunalen Sparzwang zum Opfer gefallen. In Jan Bosses Inszenierung am Berliner Maxim Gorki Theater wird der mysteriöse Fall um Marthe Rulls „Zerbrochnen Krug“ in einer prolligen Mehrzweckhalle verhandelt (Bühne: Stéphane Laimé). Eine Handvoll Ein-Euro-Jobber beseitigt noch in aller Ruhe Discokugeln, Luftballons und Konfettireste vom vorabendlichen Dorftanz, während der Richter Adam, der zu Kontrollzwecken aus Utrecht angereiste Gerichtsrat Walter und der Schreiber Licht ins Verhandlungszimmer einmarschieren. Gemeinsam übrigens mit dem Publikum, das zuvor – noch im Foyer – den von Edgar Selge gespielten Dorfrichter gleichsam privat erleben durfte. Nackt, zerschrammt und aus diversen Kopfwunden blutend war er auf der Suche nach seiner Berufskleidung auf den Garderobentheken hin und her gesprungen, hatte sich letztlich einen x-beliebigen Mantel gegriffen und seinen aufstiegswilligen Schreiber Licht (Ronald Kukulies) auf Vertuschung eingeschworen.

Denn der Dorfrichter Adam sitzt, was die Streitparteien freilich nicht wissen, bei der tagesaktuellen Verhandlung eigentlich über sich selbst zu Gericht. Er wurde beim nächtlichen Versuch, die junge Eve sexuell zu missbrauchen, von deren Verlobtem Ruprecht Tümpel überrascht. Der Bauernsohn fügte dem Juristen – ohne ihn zu erkennen – mit der Klinke gewaltige Kopfwunden zu und hält seine Freundin seither für eine notorische Fremdgängerin. Adam wiederum hat auf der Flucht seine Perücke verloren und den geschichtsträchtigen Krug von Eves Mutter Marthe Rull zerbrochen. Die zerrt nun im Zeugenstand vorwurfsvoll die Scherben aus ihrer Handtasche und beschuldigt ihren künftigen Schwiegersohn.

Jan Bosse liest Kleists Verschleierungskomödie in aller Konsequenz als Gegenwartsschwank. In diesem „Zerbrochnen Krug“ – einer Adaption von Bosses Inszenierung 2006 am Schauspielhaus Zürich – bleibt tatsächlich kein Possen-Auge trocken. Der Gerichtssaal, den die Reinigungskräfte aus der Dorftanz-Location schließlich zurechtgeschustert haben, erinnert ans Studio der TV-Richterin Barbara Salesch: The Gerichtsshow must go on. Schreiber Licht (Ronald Kukulies) rutscht auf einer Pfütze Erbrochenem aus, das die Putzmänner wohlweislich umwischt haben, und bestreitet die Verhandlung mit breiigen Speisebröckchen am Jackett. Frau Rull (Franziska Walser) hat sich für den Gerichtstermin in einen Jeansoverall mit massivem Goldgürtel geworfen (Kostüme: Kathrin Plath) und nervt die Amtsträger mit der Kulturgeschichte des Kruges. Hochnotkomisch springt Walser mit Mappen und Folien um einen Overheadprojektor herum, während ihre Tochter (Britta Hammelstein) sich genervt über die Stonewashed-Jeans fährt und dem Kapuzenschluffi Ruprecht (Matti Krause) verächtliche Blicke zuwirft.

Kurzum: Man trägt dick auf in Huisum – und dabei gern mal die Mode aus der vorletzten Saison. In diesem Kontext gehen der vergleichsweise schöngeistige Dorfrichter und der Gerichtsrat Walter (Jean-Pierre Cornu) – ein Buchhaltertyp mit Rothaartoupet und Apple-Macintosh-Köfferchen – locker als Elite durch.

Vor allem aber sind sie ein großartiges Schauspielergespann, das so komisch wie differenziert vom Duell- in den Duett-Modus switcht und umgekehrt. Selge setzt dem bewährten Role Model vom dröhnenden Macho-Dorfrichter die Qualität der intellektuellen Schläue entgegen. Sein Adam ist das zu kurz gekommene Männlein, das eher aus der Defensive heraus zur Höchstform aufläuft. Die Kreativität, die ihm das Lügen abnötigt, scheint er sich in diesem Ausmaß gar nicht zugetraut zu haben, was die Selbstberauschung umso stabiler macht.

Großartig die Gerichtspausen-Szene, in der Adam den Gerichtsrat mit Alkohol abzufüllen versucht und der zugeknöpfte Buchhaltertyp, der ihn längst durchschaut hat und Vergnügen an den abenteuerlichen Selbstverteidigungsstrategien findet. Cornu mischt in dieses Amüsement den Voyeurismus des Überlegenen, der seinem Opfer mit gleichsam zoologischem Interesse beim existenziellen Strampeln zusieht, genauso wie einen Schuss männerbündische Solidarität.

Das juristische Aufklärungsinteresse ist eher ehrgeiz- denn erkenntnisgeleitet: Wie das tatsächlich war mit dem Missbrauch, will hier keiner wissen. Sowohl Eve mit ihrer finalen Aussage als auch Marthe Rull mit der Bitte, dem Krug als Gegenstand und Metapher „zu seinem Recht zu verhelfen“, prallen – auch dies ein korrekter Krisenkommentar – am männlichen Schulterschluss ab. Dass selbst das in formvollendeter Lustigkeit und zum Amüsement des Publikums geschieht, macht den Schwank am Schluss fast zur Doku-Posse.

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