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Sonya Yoncheva (l.) als Medea, Charles Castronovo (r.) als Jason.

© Imago/Scherf

"Medea" an der Berliner Staatsoper: Trauerspiel in der Tiefgarage

Andrea Breth und Daniel Barenboim stellen an der Berliner Staatsoper Luigi Cherubinis „Medea“ von 1797 zur Diskussion - aber die Premiere steht unter keinem guten Stern.

Nach der Pause bleiben überraschend viele Plätze frei. Das Licht wird heruntergedimmt, Daniel Barenboim erscheint im Graben – und als er schon den Taktstock heben will, gehen die Türen wieder auf. Dutzende Menschen drängen herein, quetschen sich im Dunkeln in die Reihen. Lange wartet der konsternierte Maestro, bis ihm schließlich der Geduldsfaden reißt und er seiner Staatskapelle das Zeichen gibt, loszulegen, obwohl im Parkett und auf den Rängen immer noch Nachzügler zugange sind. Doch es kommt noch ärger: Beim Schlussapplaus zeigt sich Barenboim zunächst wie gewohnt mit dem ganzen Orchester auf der Bühne. Tritt später dann noch einmal alleine vor den Vorhang, verbeugt sich in Richtung der einen Saalhälfte, will dann zur anderen Seite hinübergehen – und rutscht mit einem Bein in den Souffleurkasten, fällt hin, rappelt sich, während dem Publikum noch der Atem stockt, aber zum Glück unverletzt wieder auf.

Nein, diese Saisoneröffnungspremiere der Lindenoper steht unter keinem guten Stern. Sie findet mit vier Tagen Verspätung statt und nicht, wie gewohnt, am 3. Oktober, weil das Haus und sein Generalmusikdirektor da für den Festakt zum Tag der Deutschen Einheit gebraucht wurden, den diesmal, gemäß dem Bundesländerturnus, Berlin ausrichten durfte.

Um die Kindsmörderin Medea dreht sich die erste Produktion der Spielzeit, genauer gesagt um Luigi Cherubinis „Médée“, 1797 uraufgeführt am Pariser Theatre Feydeau. Ein für seine Zeit avantgardistisches Werk, ästhetisch an der Schwelle zur Romantik angesiedelt und auch formal ungewöhnlich, weil nach den Regeln der „opéra comique“ gebaut, also mit gesprochenen Dialogen zwischen den Musiknummern, obwohl das antike Sujet eigentlich die Form der „tragédie lyrique“ mit Rezitativen nahelegt hätte.

Beethoven war ein großer Verehrer des 1760 in Florenz geborenen Cherubini, der in Italien ausgebildet worden war und sich nach Lehrjahren in London 1788 in Paris niederließ. Seine „Medea“ wirkte stilprägend, obwohl kein kommerzieller Erfolg daraus wurde, das Libretto zu seinem beim Publikum deutlich beliebteren „Wasserträger“ hielt Goethe für den idealen Operntext.

Als Meister der Kirchenmusik und Direktor des Pariser Konservatoriums genoss Luigi Cherubini bis zu seinem Tod 1842 hohes Ansehen. Auf den Bühnen waren seine Werke da längst von Meyerbeers effektvollen Grand Opéras verdrängt worden. Eine kurze Renaissance war der Medea zwischen 1953 und 1962 vergönnt, als Maria Callas das Werk für sich entdeckte. Allerdings in einer stark bearbeiteten Form, mit nachkomponierten Rezitativen und in italienischer Sprache. Es war der Versuch, Cherubini an jene Art von naturalistischer Dramatik heranzurücken, die das Publikum von Verdi gewohnt war.

Barenboim dirigiert klassizistisch, nicht romantisch

Seit 2006 ermöglicht eine kritische Neuausgabe der Partitur, die ursprüngliche „Medea“ wiederzuentdecken. Und genau diese Originalversion hat Daniel Barenboim auch für Berlin ausgewählt, wohl wissend, dass die Deklamation französischer Sprechtexte äußerst heikel ist, wenn man, wie hier, mit einem international gemixten Solistenensemble arbeitet. Aber der Maestro nimmt es in Kauf, weil sich sein Interesse vor allem darauf richtet, Cherubinis Klassizismus im Orchestralen zu betonen.

Hätte es in Italien und Frankreich Ende des 18. Jahrhunderts schon ein breites Interesse am Sinfonischen gegeben, so wie in Deutschland, Cherubini wäre auf diesem Gebiet ein Star geworden. Denn was bei ihm im Operngraben passiert, geht weit über übliche Sängerbegleitung hinaus. Ungemein elaboriert ist der instrumentale Part, die Melodien werden mit interessanten Nebenstimmen bereichert, hinzu kommt eine üppige Klangfarbenpalette, besonders im Bereich der Holzbläser. In der „Medea“ gibt es sogar Soli für Piccoloflöte oder Fagott, die Ouvertüre wie auch das Vorspiel zum dritten Akt stehen qualitativ auf einer Höhe mit den späten Sinfonien Joseph Haydns. Daniel Barenboim arbeitet den Detailreichtum der Partitur mit großer Meisterschaft heraus, die Staatskapelle spielt betörend schön. Nobel ist dieser Klang, veredelt mit einem irisierenden Perlmuttschimmer.

Durch diese Betonung des Klassizismus allerdings blendet Barenboim bewusst einen anderen Aspekt der Oper aus, den der romantischen Erregung nämlich. Man kann diese Musik auch viel drängender dirigieren, dynamisch-dämonischer, indem man die vielen unerwarteten atmosphärischen Wechsel stärker betont, die fiebrige Erregung der Protagonisten, das subkutane Brodeln unter der aristokratischen Oberfläche.

Barenboims Cherubini ist für ein Theater gemacht, das noch mit gemalten Kulissen arbeitet, die vom Kerzenlicht schummrig beleuchtet werden, bleibt stets wohltemperiert, elegant und fließend, festlich statt flamboyant. So, wie „Medea“ Unter den Linden klingt, müssten allerdings konsequenterweise auch Darsteller engagiert werden, die normalerweise Mozartopern singen. Weil aber die Besetzungen an den großen Bühnen mehrere Jahre im Voraus festgelegt werden – und Daniel Barenboim zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht wusste, dass er das Werk so zartgliedrig angehen würde –, agieren nun lauter Solisten auf der Szene, die sonst das Repertoire des mittleren und späten 19. Jahrhunderts bedienen. Allein die kluge Marina Prudenskaya vermag sich auf die anderen ästhetischen Anforderungen einzustellen. Wenn sie als Medeas Sklavin Néris das Schicksal ihrer Herrin beklagt, ist das nicht nur stilistisch perfekt phrasiert, sondern dann berührt sie auch, weil sich ihre Seufzer wirklich aus einem mitfühlenden Herzen entringen. Charles Castronovo bleibt als Jason dagegen interpretatorisch weit hinter dem zurück, was er sonst bei Gounod, Verdi oder Puccini zu bieten hat. Elsa Dreisig hadert mit der undankbaren, verteufelt schweren Arie der Dircé, Iain Paterson singt den König Kreon solide, produziert in den Dialogen aber ein grausliches Kauderwelsch.

Sonya Yonchevas Prachtorgan wirkt schlicht überdimensioniert

Der größte Fehlgriff aber ist Sonya Yoncheva in der Titelrolle. Im schweren italienischen Fach ist die 36-jährige Bulgarin derzeit weltweit gefragt, mit ihrem wuchtigen Sopran füllt sie mühelos selbst Riesenhäuser wie die Met. Hier aber wirkt das Prachtorgan schlicht überdimensioniert. Weil eben nicht die Callas-Fassung gegeben wird. Viel Energie muss sie darauf verwenden, die Stimme zu zügeln, zudem hat sie hörbar keinen emotionalen Zugang zu ihrer Figur gefunden. Ob sie um Gnade fleht oder wütet, nur die Lautstärke ändert sich, der Gestus bleibt gleich, wie aufgesagt wirken Text und Noten, ohne innere Anteilnahme.

Diese Medea schleppt sich mit hängenden Schultern durch den Abend, hört die Standpauken der Männer defensiv an. Oder aber sie bewegt sie sich mit einer deplatzierten Laszivität, als stünde „Carmen“ auf dem Spielplan. Wie Sonya Yoncheva ihren ersten Auftritt gestaltet, in einem antikisierenden Gewand, das absichtsvoll verrutscht ist, damit man – wie bei einer Boulevard-Kurtisane – eine freie Schulter sieht, das ist einfach nur grotesk.

Dass diese Rächerin so gar keine dramatische Fallhöhe gewinnt, ist natürlich auch Schuld der Regisseurin. Andrea Breth will in Medea nur die leidende Gattin sehen, die vor dem Scherbenhaufen ihres kleinbürgerlichen Lebensentwurfs steht. Als handele es sich nicht um eine der aufregendsten, vielgesichtigsten, widersprüchlichsten Frauen der Theatergeschichte. Die Duette des hohen Paares werden zu enervierenden Beziehungsgesprächen, Höhepunkt des Telenovelahaften: wenn Jason wie ein Stierkämpfer mit seinem Jackett vor Medeas Nase herumwedelt und sie ihm daraufhin in den Schritt greift.

Carla Tetis Kostüme machen Kreon und Gefolge zu Spießer-Karikaturen, Bühnenbildner Martin Zehetgruber verortet das Geschehen in der Ladezone einer Shoppingmall. Handwerklich sauber gearbeitet und absolut gefühlsneutral ist dieses Ambiente mit breiten Rolltoren und Lüftungstechnik unter der Decke, sogar der angepinselte Dreck wirkt keimfrei. Der Chor bleibt oft unsichtbar oder tappt tranig im Hintergrund herum, und wenn es szenisch heiß hergehen soll, werden Feuer entzündet. Wie Raubkunst wird das Goldene Vlies einer riesigen Transportkiste entnommen, und sogar eine Anspielung auf die Flüchtlingsproblematik kann sich das Regieteam nicht verkneifen, indem Medea nach Blackfacing-Manier zur Mulattin geschminkt wird. Freilich ohne dass das interpretatorisch Folgen hätte. Ein Tiefgaragen-Trauerspiel.

wieder am 12., 17., 20., 25. und 28. 10.

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