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Five Shells. Von Imogen Cunningham, um 1930 fotografiert.

© 1930-2017 Imogen Cunningham Trust

Meerestiere in der Fotografie: Die Windungen des Ozeans

Staunenswerte Perfektion: Eine Berliner Ausstellung zeigt Schnecken, Muscheln und Mollusken im fotografischen Werk von Man Ray bis Andreas Feininger.

Nautilus. Ein Wort nur und schon taucht man im Geiste Meile um Meile in die Tiefen des Ozean hinab. Schwärme von Fischen und Quallen schwimmen umher. Muscheln nisten am Gestein. Und je weiter es hinuntergeht, umso abenteuerlichere Fabelwesen ziehen vorbei. Nautilus. So heißt das geheimnisvolle Unterseeboot von Kapitän Nemo in Jules Vernes Abenteuerroman „Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer“. Benannt ist es – genau wie jetzt die Ausstellung in der Alfred Ehrhardt Stiftung zu Berlin – nach einem Weichtier, einer Molluske. Der Nautilus ist ein Tintenfisch aus der Familie der Perlboote.

Sein in Kammern unterteiltes Kalkgehäuse entfaltet ob seiner logarithmischen Spirale einen bezwingenden Schwung. Das skulpturale und ornamentale, eher an Architektur als an ein Tier erinnernde Gehäuse hat – ebenso wie die Schale von Jakobsmuschel oder Tritonschnecke – durch die Jahrhunderte die Aufmerksamkeit von Kunsthandwerkern, Malern und schließlich von Fotografen erregt. Nautiluspokale zieren in der Renaissance die Schatzkammern der Herrscher ebenso wie altmeisterliche Stillleben. Botticellis schaumgeborene Venus entsteigt einer Muschel. Conchylien, also die Hartgebilde der Mollusken, bestechen durch die Pracht ihres Formenreichtums und ihre vielfältige symbolische Aufladung, wie die im Untertitel „Schnecken, Muscheln und andere Mollusken in der Fotografie“ betitelte Ausstellung belegt.

Unter den Fotokünstlern der Moderne hat sich niemand hingebungsvoller mit diesen Meeresbewohnern befasst, als der Bauhaus-Fotograf und Dokumentarfilmer Alfred Erhardt. Sein halbes Leben hat er die Hülle von Muscheln und Schnecken gesammelt und fotografiert und ihnen Dokumentarfilme und Fotobücher gewidmet. Nur folgerichtig also, dass die seinem Nachlass gewidmete Stiftung in Berlin-Mitte daraus jetzt eine mit zahlreichen Leihgaben angereicherte Ausstellung macht. Ehrhardts experimenteller Film „Tanz der Muscheln“ von 1956 läuft ebenfalls dort.

In vollem Umfang war die Schau zuvor in der mit mehr Ausstellungsfläche gesegneten Kunsthalle Erfurt und dem Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte Oldenburg zu sehen. Dort wurden auch die poppigen farbigen Arbeiten zeitgenössischer Fotografen und Künstlerinnen wie Hans Hansen, Natascha Borowsky und David Lachapelle gezeigt, die sich in Berlin nur im schönen Katalogbuch anschauen lassen. Hier beschränkt sich die Stiftung in ihren Galerieräumen auf nicht minder eindrucksvolle Schwarz-Weiß-Fotografie des 20. und 21. Jahrhunderts.

Spiralform als Grundtendenz des Lebens

Die von einigen perlmuttern schimmernden echten Exemplaren in einer Vitrine flankierten Fotos von Stachelschnecken und Teufelskrallen spannen einen mal neusachlich, mal surrealistisch ausfallenden Bogen von Ehrhardt über Imogen Cunningham, Man Ray, Otto Steinert, dem Doyen der westdeutschen Nachkriegsfotografie, bis zu Wols und dem mit Fotos der New Yorker Skyline bekannt gewordenen Andreas Feininger. Egal ob als Vanitas-Motiv oder als sexuell konnotiertes Fruchtbarkeitssymbol in Szene gesetzt, immer sind die Gehäuse überaus rätselhaft und dekorativ. Sie zeigen die Baupläne einer Äonen-alten Natur, die den Menschen nicht braucht, um staunenswert perfekt zu sein.

Die Spiralform ist eine Grundtendenz des Lebens, zitiert Kuratorin Christiane Stahl beim Rundgang denn auch den naturwissenschaftlich bewanderten Dichterfürsten Goethe, der damit die genetische Doppelhelix vorausahnte. Goethes Totenmaske hat der Fotograf Edward Steichen in einer Arbeit von 1932 auf Stirnhöhe mit einer leuchtenden, den Geist ebenso wie den Kreislauf von Leben und Tod symbolisierenden Spirale versehen.

Ähnlich gespenstisch, wenn auch viel weniger expressiv wirken die bislang weithin unbekannten Röntgenbilder des Hamburger Architekten und Fotografen Fritz Block. Er durchleuchtete 1931 Meerestiere in Serie, um ihr Konstruktionsprinzip sichtbar zu machen. Doch die verwischten weißen Windungen auf schwarzem Grund, sind mehr als nur neusachliche Naturdokumentation. Blocks in die Abstraktion überleitende Aufnahmen belegten vielmehr den Beitrag der Wissenschaftsfotografie zum Neuen Sehen, zur Neuen Fotografie, schreibt der Fotohistoriker Roland Jaeger dazu im Katalog. Wundersam anzusehen sind sie allemal.

Das gilt auch für die Paradeporträts des Nautilus, die sich im Raum links vom Eingang gegenüberhängen. Edward Westons Foto „Nautilus Shell“ von 1927 ist eine Ikone der Avantgardefotografie und eins der teuersten Fotos überhaupt. Ihm gegenüber hängt Alfred Ehrhardts „Nautilus pompilius L. Philippinen“ (1940/41). Beide präsentieren das verlassene Gehäuse frontal als schwellende, noble Form – streng von der Umgebung isoliert, vor schwarzem Hintergrund schwebend und sorgsam ausgeleuchtet – eine ästhetische Offenbarung der Natur. Die sich auch ohne Wissen davon, dass Alfred Ehrhardt mit Kunstlicht und sein US-Kollege mit Tageslicht gearbeitet hat, dann doch sichtlich unterscheidet. In den Grauabstufungen, dem Spiel von Licht und Schatten und dem sinnlichen Sog, den das schimmernde Gehäuse aus den Tiefen des Meeres entfaltet.

Alfred Ehrhardt Stiftung, Auguststr. 75, Mitte, bis 15. April, Di–So 11–18 Uhr, Do 11–21 Uhr, Katalog 19,95 €.

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