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Kultur: Mehr Demokratie spielen

Michael Frayns deutsches Kanzlerdrama „Democracy“ im National Theatre London

Am Schluss hört man, von den Tontechnikern des Londoner Nationaltheaters effektvoll aufbereitet, wie die Berliner Mauer einstürzt. Der Holzwurm, den Spion Günther Guillaume im Gebälk des Palais Schaumburg hörte, als er 1969 seinen Dienst im Büro des Bundeskanzlers antrat, war eben doch nicht in der kapitalistischen Demokratie mit ihrem individualistischen Durcheinander, sondern im sozialistischen Nachbarhaus aktiv gewesen. Im dramatischen Postskript von Michael Frayns Kanzlerdrama „Democracy“ sinniert Guillaume aus der verklärten Distanz noch einmal über sich und Willy Brandt: „Denkt er manchmal daran, dass ich auch meinen kleinen Anteil daran hatte? Der kleine Mann, der den großen Mann beobachtet und gesehen hat, dass man ihm trauen kann?“

Die Komplexität der Geschichte für die Bühne zu reduzieren und dann die Akteure auf der historischen Bühne gleichzeitig mit neuer Komplexität aufzuladen – das ist die Arbeit des Dramatikers. Michael Frayn hat sie schon mit „Kopenhagen“, dem Stück über Heisenberg und die „deutsche Atombombe“ exzellent erledigt. „Democracy“, das erste Theaterstück über die Kanzlerschaft Willy Brandts und ihr dramatisches Ende im Mai 1974, ist nicht nur eine ähnlich erfolgreiche Dekonstruktion des Mythos Willy Brandt, sondern, versteckt im Unterfutter des Stücks, eine Huldigung der parlamentarischen Demokratie mit ihrem täglichen Chaos: „Jeder für sich selbst und alle völlig abhängig voneinander. Nicht ein Deutschland. Sechzig Millionen einzelne Deutsche. Der Turm von Babel!“

Das Stück, das nächstes Jahr am Berliner Renaissance-Theater in deutschsprachiger Erstaufführung herauskommt, lebt von den Brüchen, die sich einstellen, wenn Ursache und Wirkung in einem überraschend widersprüchlichen Verhältnis stehen. Guillaume, der Spion, als Vermittler von Vertrauen. „Können wir der DDR trauen?“, fragt ihn Willy Brandt (gespielt von Richard Allam), und Guillaume (Conleth Hill in der eigentlich tragenden Rolle des Stücks) kaut verlegen auf seinem Füller. „Können wir ihm trauen?“, fragt ihn sein Agentenführer Arno Kretschmann. DDR-Spionagechef Markus Wolf hat ihn im Kanzleramt platziert, um die Ostpolitik auszuleuchten und zu fördern. Die führt dann dazu, dass die kleine DDR nach der Aussöhnung mit der Sowjetunion unwichtig wird und man sie fallen lässt. Wieder eine Ironie. Auch wenn fraglich ist, ob der Fall der Mauer eine Konsequenz der Ostpolitik war und wer mehr fürs Ende des Kalten Krieges tat – Willy Brandt oder Ronald Reagan und der NATO-Doppelbeschluss.

Frayne schleust seinen Guillaume, eine dienstfertige Betriebsnudel, die Brandt zuwider ist, als Kommentator in die innersten Zirkel der Bonner Machtzentrale. Schmidt, Genscher, „Onkel Herbert“ – ehrgeizige Zyniker, die auf der englischen Bühne nicht so wirken, wie sie sich ein deutscher Zeitgenosse denken würde. Dafür aber sind die Innereien der Bonner Republik lustiger, als man für möglich gehalten hätte.

Vor allem Wehner ist so ein Widerspruch. Er hat Brandts Koalition mit der FDP abgelehnt und muss sie nun als Mechaniker der Macht zusammenhalten – auch in der Abstimmungskrise um die Ostverträge, bei der die Stimmenthaltung des CSU-Abgeordneten Steiner 50 000 Mark kostete. Mehr Demokratie wagen? „Je mehr man sie wagt, desto straffer muss man sie unter Kontrolle halten“, schimpft Wehner. Unten, auf der horizontal geteilten Bühne von Michael Blakemores Inszenierung, treiben die Bonner Politiker ihre Machtspiele, oben hält Brandt seine Reden über gute Nachbarschaft.

Eine ironische Verwandlung hat Frayn vielleicht auch zu seinem Stoff gebracht. Wie so viele Briten war der heute 70-jährige Autor bei seinem ersten Deutschland-Aufenthalt 1972 fasziniert von diesem Land mit seiner monströsen Mauer, den Verwundungen und Verklemmungen der innerdeutschen Spaltung. Vor allem aber bannte ihn die Wandlung der Nazihölle mit ihrem „korrupten Glanz“, diesem noch für den zaghaftesten Briten unwiderstehlichen Faszinosum, in die reiche, langweilige Bundesrepublik, „eines der anständigsten Länder in Europa“. Wie für viele Briten symbolisiert Brandt für Frayn diesen Verwandlungsakt – er zeigt auf der Bühne, wie eine Identität nach schweren Verletzungen wieder zusammenwachsen kann.

Dabei wird nun aber an die Stelle der Integrationsfigur Brandt die dramatische Paarung mit dem Spion gerückt. „Wo immer er hingeht, mein Schatten begleitet ihn“, sagt Guillaume. Es ist eine Hegelsche Herr- Knecht Dialektik, die mit anderen literarischen Paaren mithalten kann – Don Quichotte und Sancho Pansa oder auch Don Giovanni und Leporello. Im bewundernden, aber letztlich kalten Blick Guillaumes werden Brandts Widersprüche deutlich: Er ist kalkulierend, wo er ehrlich erscheint, er wird bewundert, aber in ihm ist eine abwesende Distanz. Seine besten Reden sind die, in denen er nichts sagt – der Kniefall in Warschau, das Fenster in Erfurt.

Die Aura, die ihn umgibt, ist eine Maske, hinter der sich Depression, Zaudern, Selbstzweifel verbergen. Über eine Serie falscher Namen nur wurde aus dem Lübecker Herbert Frahm der deutsche Mythenkanzler Willy Brandt – eine Identität, die unter dem Druck der Geschichte zerfällt – und deshalb zum Begriff des Zusammenwachsens werden kann.

Matthias Thibaut

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