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Kultur: Mehr Erotik wagen

Von Fantasmen, von Depressionen und vom Segen der Tischlerei: ein Gespräch mit dem Regisseur

Monsieur Rivette, schon 1975 wollten Sie die „Geschichte von Marie und Julien“ drehen, aber es kam nicht dazu. Man weiß, Sie fingen an, und nach drei Tagen...

... hatte ich eine Art Nervenzusammenbruch. „Marie und Julien“ war Teil eines Projekts von vier Filmen, die zwei ersten, „Duelle“ und „Noroît“, hatte ich abgedreht. Wir hatten den Dreh mit Leslie Caron und Albert Finney gerade begonnen, aber ich hatte mich völlig verausgabt. Schon am zweiten Tag war ich unfähig, irgendwas Ernsthaftes zu tun. Und am dritten Tag kam ich an den Set, guckte mich um und ging wieder. Ich hatte keine Ahnung, wohin mit der Kamera, ich hatte tatsächlich eine Depression.

Was hat Sie neu zu dem Stoff inspiriert?

Der Zufall. Vor ein paar Jahren hat Hélène Frappant ein Buch über mich geschrieben, und für die Recherche besuchte sie auch William Lubtchansky, den Kameramann fast aller meiner Filme. Bei ihm fand sie eine sehr geheimnisvolle Skizze dieses Films – Notizen von Claire Denis, die zum ersten Mal meine Regieassistentin sein sollte. Beim Wiederlesen dieses Textes gab es zunächst Sachen, die ich überhaupt nicht mehr verstand. Aber bald entstand in mir der Wunsch, diese beiden Unglücklichen auferstehen zu lassen, sie aus dem Niemandsland herauszuholen, in dem sie 30 Jahre lang gesteckt hatten.

„Marie und Julien“ ist nicht nur die Wiedergeburt eines Projektes, auch der Film selber oszilliert zwischen Tod und Leben.

Untote sind ein Leitmotiv meiner damals geplanten Tetralogie „Scènes de la vie parallele“. Ich benutze dabei keltische Mythen und verbinde sie mit chinesischen, japanischen, afrikanischen Vorstellungen von der Welt der Lebenden und der Toten. Beide Welten existieren nebeneinander, mal ist zwischen beiden ein Fluss, mal ein Hügel. Manche Sterbliche, die eine Schuld mit in den Tod genommen haben, schaffen es nicht über diese Grenze. Sie müssen so lange zurückkehren, bis sie eine Lösung dafür finden. In „Marie und Julien“ geht es um den Willen, den eigenen Selbstmord einem nahen Menschen als Mord in die Schuhe zu schieben. Also um Schuld.

Sie haben mit Emmanuelle Béart und Jerzy Radziwilowicz neue Schauspieler für einen alten Traum gefunden...

...ich dachte sofort an Emmanuelle! Wenn sie abgesagt hätte, hätte ich den Film nicht gedreht. Ich brauchte ihre starke Körperlichkeit, ihre dynamische Art sich zu bewegen, ja, ihre Fleischlichkeit. Mit Jerzy hatte ich schon bei „Secret Défense“ sehr gut zusammengearbeitet. Beide sind sehr verschieden. Ich wollte, dass der Zuschauer sich gleich fragt: Kann es überhaupt eine Beziehung zwischen dieser Frau und diesem Mann geben? Und die Antwort musste „ja“ sein.

Es gibt sehr erotische Szenen. Wie haben Sie die gewissermaßen choreografiert?

Das entsteht beim Dreh. Ich wollte sehr schnell, dass das Erotische besonders auch über die Sprache funktioniert. An den beiden Monologen – über den Wald und über die Schlacht – haben wir am eingehendsten gearbeitet Dabei gab es sogar ein bisschen Streit.

Warum?

Pascal und Christine hatten ziemlich scheue Texte geschrieben, und ich sagte, da muss man mehr wagen, damit das einen Sinn hat. Dann wiederum fanden die Schauspieler die Texte zu weitgehend – jedenfalls jenseits dessen, was sie vor der Kamera zu sagen bereit waren.

Hat das filmische Ergebnis Sie nun mit den Widrigkeiten des alten Projekts versöhnt?

So kann man das nicht sagen. Ich fühle mich an nichts gebunden. Manches haben wir so gelassen, wie es schon damals vorgesehen war, auf anderes haben wir verzichtet, und wieder anderes haben wir hinzugefügt. Auch fehlte damals das Ende der Geschichte. Jetzt wollte ich unbedingt ein Happy End: Es war ein schönes Stück Arbeit. Andererseits wäre es arg einfach gewesen, die Geschichte traurig enden zu lassen.

„Marie und Julien“ lebt von Fantasmen, von Geheimnis und Mysterium. Haben Sie nicht manchmal gefürchtet, sich in dieser Liebesgeschichte zu verlieren?

Wir wollten so klar wie möglich sein. Es ist uns vielleicht nicht ganz gelungen. Aber warum muss eine Liebesgeschichte immer zwischen einem Wall-Street-Geschäftsmann und einer Bistro-Kellnerin spielen? Sicher hätten wir die Geschichte auch im Off, in der Ich-Form kommentieren können. Aber diese Technik ist zu simpel, ich verabscheue das.

„Marie und Julien“ erinnert ein bisschen an „Vertigo“, an „The Sixth Sense“ von M. Night Shyamalan, an Alejandro Amenábars „The Others“ ...

... „The Sixth Sense“ mag ich, Amenabar gar nicht. In „The Sixth Sense“ ist alles logisch, der Regisseur schummelt nicht, und auch die starke Schlussvolte nimmt das Vorangegangene nicht zurück. Man kann den Film ein zweites Mal sehen, und man sieht einen zweiten, ebenso logischen Film. Bemerkenswert! „The Others“ dagegen: Tut mir Leid, die Schlusssequenz macht alles kaputt.

Haben Sie eine Art Credo als Regisseur?

Kein Credo. Aber ich will nur Sachen machen, die gut in sich zusammenpassen. Logisch, nicht mathematisch. Wie in einer Tischlerei – mein Großvater war Tischler. Ich finde, ein Tisch muss gut auf seinen vier Beinen stehen.

Das Gespräch führte Jan Schulz-Ojala.

Jacques Rivette , geboren 1928, gilt als der große Außenseiter der Nouvelle Vague. Zu seinen wichtigsten Filmen gehören „Die Nonne“, „Out 1: Spectre“ und „Die schöne Querulantin“.

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