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Kultur: Mehr Sonne als Schatten

Europa trotz Krise: Andreas Wirsching meint, dass sich das Zusammenwachsen des Kontinents lohnt.

Von Hans Monath

Die Zeitgeschichte gilt als unsicheres Terrain für Historiker, nicht erst seit Hans Rothfels ihren Gegenstand in seiner berühmten Definition als die „Epoche der Mitlebenden“ beschrieb. Die amtlichen Quellen sind in der Regel noch auf Jahre oder Jahrzehnte gesperrt, weshalb dann öffentlich zugängliche Dokumente, Selbstzeugnisse der Handelnden oder Medienartikel als Bausteine dienen. Der Wissenschaftler muss Distanz zu einem Geschehen herstellen, das noch lange nicht abgeschlossen ist, und dessen Folgen deshalb nur schwer zu übersehen sind. Und trotzdem muss der Zeithistoriker urteilen über Erfolg oder Misserfolg eines Politikers oder eines großen politischen oder gesellschaftlichen Projekts – und das mit größerer Autorität als ein Publizist, dessen Texte mit geringerer Halbwertszeit auskommen.

Andreas Wirsching, der Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte (IfZ), hat das nun gewagt mit seinem Buch „Der Preis der Freiheit“. Nichts Geringeres als die Geschichte Europas vom Zusammenbruch des Kommunismus vor gut zwanzig Jahren bis zum Ausbruch der Schuldenkrise um Griechenland behandelt er auf gut 400 Seiten – und sprengt mit seinem mutigen Ansatz ganz nebenbei die engen Grenzen der Nationalgeschichtsschreibung.

Was jeder aufmerksame Zeitgenosse ab 40 Jahren zumindest als Medienkonsument erlebt hat, nämlich das Ende des Kommunismus, den Bürgerkrieg in Jugoslawien oder die Schaffung der gemeinsamen Währung und die Auszahlung der ersten Euro-Scheine, analysiert und beschreibt Wirsching nicht aus deutscher, sondern aus europäischer Sicht. Wobei er seinen eigenen Standpunkt nie verleugnet, wenn er etwa deutlich für eine Demokratisierung des Elitenprojekts Europa plädiert und oder die hohen Kosten einer Rückabwicklung oder Desintegration der Gemeinschaft benennt.

Fünf Themenkreise beschreibt und analysiert der Autor: Den schwierigen Weg der vormals kommunistischen Staaten Ost- und Mittelosteuropas zu Demokratie und Kapitalismus; das politische Projekt des gemeinsamen Europa, zu dem auch Schritte hin zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gehören; die Herausforderung Europas durch die Globalisierung und den europäischen Versuch der Selbstbehauptung; die kulturelle Selbstwahrnehmung Europas und seiner Völker sowie deren Umgang mit Minderheiten; schließlich die europäische Reaktion auf die Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2008, die sich zu einer europäischen Vertrauenskrise ausgewachsen hat.

Vor wenigen Jahren noch wäre dem Leser das Kapitel über die jugoslawische Katastrophe als das wichtigste erschienen oder das über den mühsamen Weg hin zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU mit all seinen kleinen Trippelschritten vorwärts und großen Rückschlägen. Unter dem Eindruck täglicher Schlagzeilen über wirtschaftliche Misere, Kapitalflucht oder drohende Insolvenz südlicher Mitgliedsländer hat sich der Blick verändert.

Das zentrale Kapitel über Europa und die Globalisierung ist eine beeindruckende Leistung und eine vorzügliche Einführung in komplizierte Zusammenhänge, die das Leben jedes Europäers bestimmen. Wirsching, der als Meisterschüler und Nachfolger des umstrittenen früheren IfZ-Chefs Horst Möller linker Umtriebe unverdächtig ist, korrigiert unser Bild vom Verhalten der europäischen Institutionen: Die EU und ihre Regierungen erscheinen bei ihm als Propagandisten des Neoliberalismus.

„Indem sie liberalisierten, deregulierten und privatisierten, förderten die Regierungen nachhaltig die Macht des Marktes und erweiterten den internationalen Spielraum der großen Konzerne und Banken“, schreibt er. Damit bahnten sie sich „selbst den Weg zu eben jenem staatlichen Souveränitätsverlust, den sie später um so heftiger beklagten“.

Selten sind die Kosten der Deregulierungspolitik zugleich so unideologisch und drastisch beschrieben worden wie in diesem Buch. Sein Autor verweigert einfache Antworten, sondern argumentiert durchgehend dialektisch. So stellt Wirsching fest, dass die Politik der Konvergenz, der gegenseitigen Angleichung in Europa immer auch Abgrenzungsreaktionen und Fluchtbewegungen weg vom europäischen Kern provoziert. Unter Konvergenz versteht der Autor nicht nur Angleichung und Ähnlichkeiten, sondern auch wachsende Verflechtungen, intensivere wechselseitige Erfahrungen und durch Erfahrung verfestigte Vorstellungen von anderen europäischen Nationen.

Es ist richtig, was einige Kritiker moniert haben: In „Der Preis der Freiheit“ ist von einzelnen Menschen und ihren Erfahrungen fast nichts zu lesen, das Werk ist wenig anschaulich geschrieben, sogar die Fotos sind lieblos ausgesucht. Doch sein Autor hat eine enorme Materialmenge erschlossen sowie mit meist sozialwissenschaftlichem Instrumentarium den komplexen und weltweit einzigartigen europäischen Entwicklungsprozess der vergangenen 20 Jahre geordnet und auf Begriffe gebracht.

Nicht jedes seiner Urteile muss man teilen. Ein großes Verdienst aber gebührt ihm: Wirsching liefert einen wichtigen Beitrag zur Entnationalisierung unseres Geschichts- und Europabildes. Er weitet unseren Blick, wenn wir bereit sind, uns mit komplizierten Strukturen zu beschäftigen, um das Geschehen zu verstehen.

Was den Ausgang der Schulden- und Vertrauenskrise Europas angeht, macht Wirsching klugerweise keine Vorhersagen. Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug bekanntlich nicht vor Einbruch der Dämmerung. Deutlich warnt er vor einer „teleologischen“ Geschichtsschreibung, die ihren Gegenstand auf ein gewünschtes Ziel hin ordnet und im Nachhinein unterstellt, dass andere Entwicklungsmöglichkeiten nie bestanden hätten.

Im Schlusskapitel aber kommt der Autor dann selbst in Versuchung. Er könne sich vorstellen, dass die Herausforderung Europas in der Schuldenkrise durch eine noch stärkere politische Integration gelöst wird, schreibt er: Dies würde in der Logik der politischen Reaktionsweise Europas liegen und sei deshalb „durchaus wahrscheinlich“. Der Historiker scheint damit die jüngste Ankündigung der Bundeskanzlerin vorwegzunehmen

Man ist durchaus gewillt, mit Wirsching die Komplexität Europas als Normalität zu verstehen und seine These zu unterschreiben: „Die Krise Europas besteht in seinem Zusammenwachsen.“ Doch bevor die Krisen um Griechenland und Spanien überstanden sind, bleibt das nicht mehr als ein Glaubenssatz.







– Andreas Wirsching: Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit.
Verlag C.H. Beck, München 2012. 487 Seiten, 26,95 Euro.

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