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Formidable. Katharine Mehrling und HD Lorenz, einem Mitglied ihres jazzigen Quartetts.

© Bar jeder Vernunft/XAMAX

"Mehrling au Bar" in Berlin: Sie hat’s von der Mama

Lieder wie Lebensspuren: Katharine Mehrling singt ihr biografisch angehauchtes Programm in der Bar jeder Vernunft.

Sie kann Judy Garland, Edith Piaf, Sally Bowles, Eliza Doolittle und Fanny Brice. Und wie sie sie kann. Katharine Mehrling ist geballtes Charisma – als Sängerin wie als Schauspielerin, auf der großen Bühne wie im kleinen Spiegelzelt. Und ein ziemliches Biest kann sie auch sein, wie sie am Dienstagabend bei der Premiere ihres neuen, biografisch angehauchten Programms in der Berliner Bar jeder Vernunft unter Beweis stellt.

Ihr persönlich sei es ja eher unangenehm, wenn sie von der Bühne aus angequatscht würde, wendet sich die Mehrling mit maliziösem Lächeln an einen Herrn im Publikum. „Aber ich setze mich auch nicht in die erste Reihe.“ Zack, da hat er sein Fett weg. Und einen neuen Namen noch dazu. Bei ihr heißt „Rainer“, wie er sich vorstellt, den ganzen Abend lang Harald. Ein Running Gag, den er ihr gewiss verzeiht, so herbsüß, wie sich die erst in einen schwarzen Anzug und dann in ein Spitzenkleid gehüllte Entertainerin darstellt. Unter ihrer voluminösen Stimme liegt immer eine Spur Reibeisen, unter ihrem Charme immer die Angriffslust. Das hat sie in ihren jüngsten Paraderollen sowohl an der Komischen Oper Berlin in „My Fair Lady“ oder „Ball im Savoy“ sowie im Wiener Ronacher gezeigt, wo sie im Musical „Evita“ zu sehen war. Und genauso hält sie das auch in „Mehrling au Bar“.

Swingend, poppig, chansonesk

Die Eröffnung des Abends ist swingend, chansonesk. Mehrling singt eine dreisprachige Version des Charles-Aznavour-Hits „Formidable“, dem mit „Du lässt dich gehen“ alsbald ein weiterer Aznavour folgt. Schon nach drei Liedern erledigt sich die Frage, die sich beim ungemein populären, aber auch ungemein abgenudelten französischen Repertoire regelmäßig stellt: Lässt sich daraus noch irgendein frischer Funke schlagen? Und wie! Nicht nur musikalisch, wo die mal jazzigen, mal poppigen Arrangements des Pianisten und Posaunisten Ferdinand von Seebach immer wieder Akzente verschieben, sondern auch inhaltlich, wo Mehrling die 1962 geschriebene männliche Anklage an eine immer unattraktiver werdende Frau zu einer sehr heutig klingenden Beschwerde an einen Social-Media-süchtigen Gefährten umwidmet.

Doch so weit muss sie gar nicht gehen, um den aus ihren Piaf-Programmen übernommenen Nummern wie „Milord“, „Padam“ oder „Sous le ciel de Paris“ Schmiss und Mumm zu geben. Das schafft sie ebenso wie bei den hinreißenden Garland-Klassikern „Over The Rainbow“ und „Zing! Went The Strings Of My Heart“ durch ihre interpretatorische Individualität und das Zusammenspiel mit einem glänzenden Quartett, das musikalische Klischees gekonnt umschifft.

Aufgewachsen hinter der Theke

Pianist von Seebach, Kontrabassist HD Lorenz, Gitarrist Jo Gehlmann und Schlagzeuger Stephan Genze wissen die theatralischen Momente ebenso auszukosten wie die leisen Passagen, wobei der Sound für den intimen Rahmen durchweg zu mächtig ausfällt. Ins Poprockige driftende Songs wie „Both Sides Now“ von Joni Mitchell und „No No No“, eine Eigenkomposition von Mehrling, bleiben denn auch die schwächeren Nummern.

Reine Gänsehaut ist dagegen Mehrlings Hommage an ihre Mutter, die früh verstorbene Sängerin Grit von Osthe. Sie ist es, die der „hinter der elterlichen Theke“ aufgewachsenen Tochter Edith Piaf nahe bringt. Osthes dunkle, mit dem Pathos der sechziger Jahre beschwerte Stimme erklingt von einer knisternden Schallplatte – mit dem Chanson „Jonny“. Mehrling sitzt im dramatischen Scheinwerferkegel und lauscht. Dann singt sie, flankiert von der einfallenden Band, Mutterns Lied zu Ende – großes Kino und ein inniger Moment an diesem in Jubel und Rosenbouquets ertrinkenden Abend.

Bar jeder Vernunft, Schaperstraße 24, Wilmersdorf, bis 20. November, jeweils 20 Uhr, So 19 Uhr

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